Wollen wir nicht zu olympisch sein: Die Vélomaritime ist zwar erst im Vorjahr eröffnet worden und verläuft nun, durchgängig aufbereitet und ausgeschildert, zwischen Roscoff in der Bretagne und Dunkerque an der belgischen Grenze – aber man muss ja nicht gleich die ganzen 1.500 Kilometer radeln. Eine der Etappen reicht auch, und wir entscheiden uns diesfalls für die Baie de Somme, die Somme-Bucht, die wir von unserem Stützpunkt in Saint-Quentin-en-Tourmont in alle Richtungen erkunden. Von dem Fluss weiß man bei uns recht wenig, wenn man von der grauenhaften Schlacht des Ersten Weltkriegs absieht, die weit über 100 Kilometer landeinwärts stattfand. Und von der "baie" sogar noch weniger.

Das Somme-Delta.
Foto: Getty Images/iStockphoto/Cristian Gheorghe

Sie ist auch gar keine Bucht im eigentlichen Sinn, sondern ein "estuaire", sprich, das Mündungsgebiet des Flusses – das größte Frankreichs. Eine etwa 7.000 Hektar große Fläche mit Gras und Kräuterblumen wie Queller und Strand-Astern (die gepflückt und als Salat verspeist werden), die in Watt übergeht und von etlichen kleineren Kanälen durchzogen wird. Sowie einem großen, das ist die Somme selbst, die bereits zu Napoleons Zeiten reguliert wurde und bei Saint-Valéry-sur-Somme ins Meer mündet.

Spektakulär an der Bucht ist neben ihrer Ausdehnung vor allem die Flut, die bis zu 15 Kilometer ins Landesinnere zurückströmt. Man wirft beispielsweise von der Anhöhe von Le Crotoy aus einen Blick auf die breite, trockene Ebene, ehe man sich ins Restaurant Les Tourelles begibt. Eineinhalb Stunden später kommt man wieder heraus und, siehe da, das Meer nimmt jetzt die ganze Bucht ein – praktischerweise unter Auslassung des Sandstrands vor Ort.

Ein früher Schöpfungstag

Anderntags sehen wir uns das genauer an: Soeben sind wir zu einem vereinbarten Treffpunkt mit dem Ökotourenführer Maxim Marzi geradelt und wandern jetzt durch die Bucht bis zu einem erhöhten Platz, von wo aus wir das Eintreffen der Flut beobachten werden. Es ist zeitig in der Früh, niemand sonst ist unterwegs, nur wir beide. Vor uns die ausgetrocknete Bucht mit den wie Trugbilder wirkenden Ortschaften Le Crotoy auf der einen und Saint-Valéry auf der anderen Seite.

Spektakulär an der Bucht ist die Flut, die bis zu 15 Kilometer ins Landesinnere zurückströmt und praktischerweise den Sandstrand vor Ort auslässt.
Foto: Velomaritime/Emmanuel Berthier

Es ist eine Szene wie an einem frühen Schöpfungstag: Das Meer in der Ferne gibt es schon, den endlos ausgedehnten Horizont mit seinen heiteren Wolkenparaden ebenso, die ringsum kreisenden Möwen stoßen bereits ihre Schreie aus, der seichte Kanal vor uns plätschert friedlich vor sich hin – aber die Flut wird eben erst geschaffen, und zwar genau jetzt: Fast unmerklich, aber unaufhaltsam füllt sich der Kanal, bilden sich weitere Kanälchen auf dem Gelände, und in einer Viertelstunde ist das ganze Watt vor uns untergegangen und geflutet. Es ist eine Art Wunder, das aber zweimal am Tag geschieht.

Die Somme-Bucht ist ein Streckenabschnitt des 1.500 Kilometer langen Radfernwegs Vélomaritime.
Foto: Velomaritime/Emmanuel Berthier

"Das Ein- und Ausatmen der Natur", sagt Maxim, der an diesem Morgen Gottes Stellvertreter spielt, denn er hat die Details des Geschehens vorausgesagt, als hätte er es selbst erschaffen. "Jetzt müssten gleich die Robben auftauchen", meint er gerade noch, und da schwimmen auch schon die ersten – schwarzen, schnurrbärtigen, lustigen – Köpfe heran. Sie steuern an uns vorbei auf die nächste Sandbank zu, erobern sie mit ihren ungelenken Bauchaufschwüngen – die Natur hat sie definitiv mit inadäquaten Vorderbeinen ausgestattet – und legen sich erst mal in die Sonne. "Déconnecter – respirer – contempler", also "Abschalten – aufatmen – sich der Betrachtung hingeben", lautet einer der Slogans des Somme Tourismus. Die Robben scheinen das beherzigt zu haben. Die Hunderten von Vogelarten, die in der Bucht dauerhaft heimisch sind bzw. hier einen Zwischenstopp einlegen, anscheinend auch.

Das Tulpenprojekt

Ihnen hat man den Aufenthalt aber extra schmackhaft gemacht, und das kam so: Begonnen hat alles mit einem missglückten Tulpenprojekt. In den Fünfzigerjahren ließ der Agrarunternehmer Michel Jeanson eine Fläche von 200 Hektar auf der Nordseite der Somme-Bucht trockenlegen, um dort im großen Stil Tulpen anzubauen. Das ging auch so lange gut, bis die niederländische Konkurrenz übermächtig wurde.

Daraufhin ließ Jeanson die Agrarflächen renaturieren und machte daraus ein Vogelschutzgebiet, das touristisch genutzt wurde: den Parc du Marquenterre. Dieser wird nun seit 1986 vom Département Somme betrieben und beherbergt über 340 Arten. Wobei die Säbelschnäbler, Kormorane, Rotschenkel, Moorhennen und wie sie alle heißen gar nicht eigens angelockt werden mussten, denn es sind zu einem Gutteil Zugvögel, die ohnehin seit unvordenklichen Zeiten, der Küste folgend, in der Somme-Bucht Rast machen, ehe sie in Richtung Skandinavien bzw. Afrika weiterziehen.

Die Robben haben eine Sandbank für sich erobert.
Foto: Harald Sager

Der Führer Alexander Hiley hat ein Teleskop mitgebracht, sodass wir die Reiher und Störche gut beobachten können, wie sie nebeneinander in hohen Bäumen nisten, ihre Brut füttern und ihr das Fliegen beibringen. Manchen Spezies, denen wir am Wasser und in Büschen begegnen, würde man ihre unglaublichen Aktivitäten gar nicht zutrauen. Alexander Hiley: "Die Löffler beispielsweise, die wegen ihrer geschwungenen Schnäbel so heißen, ziehen nach Mauretanien weiter – hier haben wir die einzige Kolonie in Frankreich, die wir beim Brüten beobachten können. Und dieses kleine, harmlose Geschöpf, nicht viel größer als ein Spatz, ist der Fitislaubsänger. Wenn seine Zeit zum Weiterzug gekommen ist, fliegt er bis Südafrika! Aber nur die Hälfte der Population schafft es wieder zurück."

Führer Alexander Hiley mit seinem Teleskop.
Foto: Harald Sager

Da haben wir es leichter: Wenn wir vom Vogelschutzgebiet im Norden der Baie zur Südseite wollen, nehmen wir einfach das E-Bike bis Crotoy und besteigen die Nostalgie-Dampflok. Und finden uns unter hundert fidelen, bestgelaunten Senioren, von denen einige Ziehharmonika spielen, wieder, die sich Saint-Valéry ansehen wollen. Das seit dem Mittelalter bestehende einstige Fischerdorf mit großen Bürgershäusern am Ufer, die den Fischereiunternehmern, und kleinen auf den Hügeln, die den Fischern gehörten, ist in der Zwischenzeit ein hübsches Ausflugsziel geworden. (Harald Sager, RONDO, 23.8.2022)