Die Inflation vernichtet Kaufkraft, die Regierung steuert gegen: Für schlecht situierte Haushalte fällt die Bilanz – zumindest im Schnitt – durchaus tröstlich aus.

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Die Forderungen sind beinahe täglich zu hören. Hilfsorganisationen liegen der Regierung ebenso in den Ohren wie die wiedererstarkte oppositionelle SPÖ. Ohne neuerliche Hilfen gegen die Teuerung müssten sich ärmere Menschen im Winter zwischen Sparen beim Heizen oder Essen entscheiden, lauten die Warnungen. Erst am Sonntag berichtete Caritas-Präsident Michael Landau in der "ZiB 2" des ORF von einer 84-Jährigen, die ihre Begräbnisversicherung gekündigt habe, weil sie die 30 Euro monatlich nicht länger beiseitelegen könne.

Tut die türkis-grüne Koalition also zu wenig gegen die Auswirkungen der horrenden Inflation, die im Juli laut erster Schätzung auf 9,2 Prozent geklettert sein dürfte? Wer Widerspruch sucht, wird nicht nur in der Regierung selbst fündig. Geht es nach der Agenda Austria, dann sind weitere Maßnahmen aktuell überflüssig. Denn: Haushalte aus den unteren Einkommensgruppen bekämen aus den 4,7 Milliarden schweren Entlastungspaketen der Koalition schon jetzt mehr Geld heraus, als sie die Inflation koste.

Das Urteil stützt der wirtschaftsliberale Thinktank auf eigene Berechnungen, die auf Daten der Statistik Austria und des Fiskalrats fußen. Demnach summieren sich die heurigen Entlastungen – von der Aufstockung der Familienbeihilfe über die Einmalzahlung für Pensionisten bis zum mehrfachen Teuerungsausgleich für sozial Schwache – pro Haushalt auf knapp 1.000 Euro (oberstes Einkommenszehntel) bis 1.200 Euro (unterstes Fünftel). Für die einkommensschwächsten 15 Prozent reiche das aus, um die durch die Inflation gestiegenen Konsumausgaben abzugelten und sogar überzukompensieren (siehe Grafik).

Staatliche Mission erfüllt?

Sollte die Jahresinflation noch über die angenommenen 7,9 Prozent steigen, sollte die Regierung mit weiteren Einmalzahlungen für die vulnerablen Gruppen nachbessern, fügt Agenda-Ökonom Hanno Lorenz an. Doch aus heutiger Sicht habe der Staat seine Aufgabe, Notlagen zu verhindern, erfüllt.

Tatsächlich? Der heimische Fiskalrat kommt ebenfalls zum Schluss, dass die Regierungspakete die Mehrkosten für die untersten 15 Prozent abfangen. Doch im Juni stellte das Fachgremium noch ohne Anrechnung der Entlastungen auch fest, dass mit der hohen Teuerung in den ersten vier Monaten eine deutlich größere Gruppe in existenzielle Nöte geraten ist: Der Anteil der Haushalte, die ihre durchschnittlichen Konsumausgaben nicht durch ihr verfügbares monatliches Einkommen finanzieren können, sei von 25 auf 35 gestiegen.

Das bedeutet: Die Regierungsmaßnahmen gelten beträchtlich weniger Menschen die Teuerung voll ab, als mangels Einkommen ihre Ausgaben nicht decken können.

Konsumverzicht zumutbar

Lorenz hält die Kompensation dennoch für ausreichend. Er gehe davon aus, dass Haushalte vom untersten Fünftel aufwärts sehr wohl Spielraum zum Sparen hätten, auch wenn manche das bisher nicht taten, argumentiert der Ökonom. Es sei nicht sinnvoll, dass der Staat die Teuerung auch für jene Bürger voll abfange, denen Konsumverzicht zumutbar sei: Denn entweder müsste die öffentliche Hand das Geld via neue Steuern auf ineffizientem Weg zurückholen oder noch mehr Schulden anhäufen. Letzteres würde die nicht verhinderbaren "Wohlstandsverluste" nur in die Zukunft verschieben.

Allein nach den nackten Zahlen kam das sozialliberale Momentum-Institut, mit Gewerkschaftsnähe ein ideologischer Gegenpol zur Agenda Austria, im Juni zu vergleichbaren Ergebnissen. Das damals eben beschlossene dritte Entlastungspaket decke die aktuellen Teuerungskosten für Haushalte mit niedrigen Einkommen im Wesentlichen ab, so die damalige Schnellanalyse. Eine aktualisierte Berechnung anhand der nun noch schlechteren Inflationsprognose ist in Arbeit.

Schwachstellen im Konzept

Schon jetzt weist Chefökonom Oliver Picek aber darauf hin, dass Durchschnittswerte mit Vorsicht zu genießen seien: Wer einen unvorteilhaften Mietvertrag habe, mit Gas heize und auf das Auto angewiesen sei, könne viel schlechter aussteigen, als die auf die Allgemeinheit gemünzten Zahlen suggerierten.

Wo der Staat noch eingreifen könne, solle er das deshalb tun, empfiehlt Picek – und nennt als Beispiel den diskutierten Strompreisdeckel. Dass die Regierung zwar viel Geld für die Kompensation ausgebe, aber die Preise ungebremst nach oben schießen lasse, sieht er als entscheidende Schwachstelle im politischen Konzept. Weil diverse Kosten – wie das etwa für viele Mietverträge gilt – automatisch jährlich mit der allgemeinen Inflationsrate erhöht werden, drohe sich die Teuerung selbst zu befeuern.

Das Geld fließt spät

Was noch zu bedenken ist: Die für heuer geplanten Entlastungsmaßnahmen sind längst noch nicht alle ausbezahlt. Die einmalige Familienbeihilfe von 180 Euro pro Kind soll im August fließen, der Teuerungsausgleich für sozial vulnerable Gruppen ebenso wie die Einmalzahlung für Pensionisten im September, der Antiteuerungsbonus für alle im Oktober. Unter der Inflation leiden ärmere Menschen aber schon seit vielen Monaten – und sind auf Schuldenmachen oder karitative Hilfe angewiesen.

Außerdem weist Picek ebenso wie die nach mehr Unterstützung rufenden Organisationen darauf hin, dass das soziale Netz schon vor der Inflationskrise nur bedingt vor dem Absturz in die finanzielle Misere geschützt habe: Der aktuelle Maximalbetrag der Sozialhilfe für Alleinstehende liegt mit 978 Euro pro Monat weit unter der Armutsgefährdungsschwelle von 1.328 Euro. (Gerald John, 8.8.2022)