Tausende EU-Bürger im Dienst des NHS haben die britische Insel verlassen. Im Gesundheitssystem fehlt Personal.

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Dass es um die zahnärztliche Versorgung in ihrem Land vielerorts schlecht bestellt ist, wissen die Briten aus bitterer Erfahrung seit langem. Die öffentlich-rechtliche BBC hat jetzt das ganze Ausmaß der schmerzhaften Misere offengelegt: In großen Regionen Englands, aber auch in Wales und Nordirland haben Patienten beinahe keine Chance, von Zahnarztpraxen des Nationalen Gesundheitssystems NHS aufgenommen zu werden. Wer sich die Behandlung als Privatpatient nicht leisten kann, muss monatelang auf einen Termin bei Notfallkliniken warten – oder zur Selbsthilfe greifen.

In monatelanger Geduldsarbeit fragten die BBC-Journalisten bei annähernd 7.000 Praxen nach. Diese werden auf der Insel als private Unternehmen betrieben; einem Vertrag mit dem NHS zufolge erhalten Zahnärztinnen einen Fixbetrag für eine bestimmte Anzahl von Leistungen. Auch für diese müssen die meisten Patienten eine Gebühr entrichten. So kostet eine normale Nachschau um die 20 Pfund (24 Euro), für eine neue Amalgamfüllung werden 50 Pfund (59 Euro) fällig. Ganz kostenfrei ist die Behandlung nur für Kinder sowie für sozial Bedürftige.

Der Haken an der Sache: Viele Briten erhalten gar nicht erst Zugang zu einer Praxis, die dem NHS-System zufolge Leistungen erbringt. In der riesigen nordenglischen Region Lancashire mit Millionen von Einwohnern oder in den ländlichen Grafschaften Norfolk und Devon beispielsweise suchen Erwachsene vergeblich nach einem NHS-Zahnarzt. Auch für Kinder dauert die Suche oft monatelang, Anfahrtstrecken von 100 Kilometern sind keine Ausnahme. Auch jene, die schon bisher einer Praxis zugeordnet sind, müssen häufig lange Wartezeiten in Kauf nehmen. Wenn es einmal Notfalltermine gibt, "sind nach fünf Minuten alle vergeben", weiß Paul Woodhouse, Vorstand im Zahnarzt-Verband BDA.

Selbsthilfe aus Not

Dementsprechend verzweifelt handeln viele von Zahnschmerz geplagte Bürger. Sie schmirgeln abgebrochene Zähne mit Nagelfeilen zurecht, formen aus Babybel-Käsewachs Ersatz für die Halterungen von Zahnspangen. In Blackpool stießen die BBC-Rechercheure auf Caroline Young, die für ihre unteren Schneidezähne neue Kronen benötigt. Weil ihre angestammte Praxis neuerdings die Behandlung von NHS-Patienten verweigert, telefoniert die 50-Jährige jede Woche die Behandlungszentren in der näheren und weiteren Umgebung ab. "Ich komme da nicht einmal auf die Warteliste", berichtet sie. Um nicht allzu sehr "wie ein Freak" auszusehen, schmilzt Young nun kleine Plastikkügelchen ein und formt sie zu Ersatzzähnen – eine Vorgehensweise, von der Zahnärzte wegen zusätzlicher Gefahr für das Zahnfleisch dringend abraten.

Der BDA gibt dem seit 2006 geltenden NHS-Vertrag die Schuld für die schlimme Situation. Dieser sei zu unflexibel, lege zu wenig Wert auf Nachschau und Vorbeugung, sondern belohne oft drastische Maßnahmen. "Da werden Zähne gezogen, weil das billiger ist als der Versuch, kaputte Zähne zu erhalten", weiß BDA-Chairman Eddie Crouch. In den letzten Jahren haben deshalb immer mehr Zahnärzte und Zahnärztinnen dem NHS den Rücken gekehrt, behandeln stattdessen die Patienten nur noch auf privater Basis.

Schon bisher ist nur rund die Hälfte der Briten in einer Praxis registriert, die NHS-Patienten kostengünstig behandelt. Mehr als die Hälfte aller Dentisten versorgt ausschließlich Privatpatienten. Zur Begründung für den derzeitigen Notstand führen Experten zudem weitere zwei Faktoren ins Feld.

Tropfen auf den heißen Stein

Erstens haben seit der Brexit-Entscheidung vor sechs Jahren Tausende von EU-Bürgern im Dienst des NHS die Insel verlassen. Die Covid-Pandemie führte, zweitens, zur monatelangen Schließung aller Praxen, solange die Übertragungswege des Virus ungeklärt waren. Noch immer erfordert der Umgang mit Sars-CoV-2 besondere Hygienemaßregeln, was die Zahl der Patienten pro Behandlungstag verringert.

Das Londoner Gesundheitsministerium brüstet sich mit zusätzlichen 50 Millionen Pfund (59 Millionen Euro), die zum Abbau des Covid-Patientenbergs bereitgestellt worden seien. Man behandle die Zahnarztkrise als "Priorität". Hingegen spricht der BDA vom berühmten "Tropfen auf den heißen Stein". (Sebastian Borger aus London, 9.8.2022)