Eine ruhende Springspinne hat es sich an ihrem Faden bequem gemacht.
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Es war ein langer Tag voller Lauern, Pirschen und Springen: Die Jagd hielt Thekla in Atem. Doch jetzt werden die Schatten länger und ihre acht pelzigen Beinchen schwer. Es wird Zeit für Thekla, sich einen Ruheplatz zu suchen. Ein Ast kommt ihr geeignet vor: Sie spinnt das säuberliche Zickzackmuster der Verankerung und lässt sich an einem einzelnen Faden daran herab, an dem sich Thekla einbeinig festhält. Zunächst putzt sie sich noch, bald kehrt Ruhe ein. Doch plötzlich beginnen Beine und Hinterleib unserer Springspinne zu zucken, ihre Beinchen krümmen sich – schläft Thekla etwa schlecht?

Diese Vermutung liegt nahe, immerhin kommen schlafähnliche Zustände bei vielen verschiedenen Tieren vor, von Würmern bis zum Menschen. Doch über die Existenz von Schlafphasen im Tierreich ist viel weniger bekannt. Nur von Vertretern unserer eigenen Spezies wissen wir bestimmt, dass sie träumen. Doch jeder Hunde- oder Katzenbesitzer kennt Phasen im Schlaf seiner Schützlinge, die ihm sagen, dass die Tiere träumen: schnelle, unkoordinierte Bewegungen, manchmal sogar Fiepen oder Winseln.

Verschiedene Schlafphasen

Beim Menschen gibt es ein untrügliches Anzeichen für intensives Träumen: schnelle Bewegungen der Augen, wie sie im REM-Schlaf auftreten. In dieser Schlafphase ist die Gehirnaktivität stark erhöht, sie ähnelt beinahe dem Wachzustand, die Schlaflähmung ist reduziert, und die Glieder zucken. REM-Phasen konnten außer beim Menschen auch bei anderen Säugern sowie bei Vögeln nachgewiesen werden. Diese Beobachtungen deuten darauf hin, dass diese Tiere in der Tat träumen. Könnten auch Theklas Bewegungen Folgen ihres REM-Schlafs sein?

Dieser Frage sind Forscherinnen und Forscher um Daniela Rößler von der Universität Konstanz nachgegangen. Die Fachleute haben sich so manche Nacht um die Ohren geschlagen, um die Springspinnenart Evarcha arcuata – auch Dunkler Sichelspringer genannt – bei den Ruhephasen zu beobachten. Wie Rößler und ihr Team jetzt in der Fachzeitschrift "Proceedings of the National Academy of Sciences" berichten, konnten sie erstmals REM-Schlaf-ähnliches Verhalten bei Wirbellosen beobachten.

Von ihren acht Augen sind zwei bei Springspinnen besonders ausgeprägt. Die scharfsichtigen Jägerinnen besitzen hinter ihren Hauptaugen bewegliche Netzhautröhren, mit denen sie auf ihr Opfer fokussieren können.
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Versteckte Augenbewegungen

Nun können Thekla und ihre Artverwandten ihre Augen nicht wie Menschen bewegen, was die Beobachtung des verräterischen Augenzuckens erschwert. Doch verbergen sich hinter den unergründlichen Knopfaugen der Springspinnen bewegliche Netzhautröhren. Muskeln schwenken diese Röhren herum und erlauben es den akrobatischen Jägerinnen, ihren Blick auf mögliche Beute zu richten. Normalerweise sind die Bewegungen dieser Gebilde gut hinter dem Chitinpanzer der Spinnen verborgen. Doch bei Tieren, die jünger als zehn Tage sind, ist das Außenskelett noch durchsichtig.

Die Forscher um Rößler konzentrierten sich daher auf Jungspinnen: Eine spezielle Kamera verfolgte die Bewegungen der dunklen Netzhautröhren im gläsernen Spinnenleib, außerdem notierten die Fachleute händisch, wann welches Verhalten auftrat. "Die Bewegungen jeder Spinne sind einzigartig", sagt Rößler. "Ich habe mich immer auf die nächste REM-Phase gefreut!" Wie sich zeigte, gingen die Zuckungen mit Phasen starker Augenbewegungen einher, die aktiven Phasen wurden spätnachts auch häufiger. Diese Charakteristika von REM-Schlaf würde man auch bei Säugetieren erwarten.

Träumende Spinnen?

Obwohl Rößlers Beobachtungen nahelegen, dass die Springspinnen tatsächlich schlafen und verschiedene Schlafphasen durchmachen, ist noch nicht abschließend geklärt, ob die Tiere wirklich schlummern und träumen. Um das zu überprüfen, schlagen die Wissenschafterinnen und Wissenschafter vor, die Spinnen in ihren Ruhephasen zu stören und die Reaktionszeit zu messen: Schlafende Tiere würden länger brauchen, um aktiv zu werden, als Spinnen, die sich bloß nicht bewegen. Alternativ könnten die Spinnen von ihren Ruhephasen abgehalten werden. Zeigen sie danach längere REM-Phasen, wäre die Schlaf-Hypothese gestützt.

Das Video zeigt das Verhalten ruhender Spinnen, das auf REM-Phasen hindeutet, und vielleicht auf Träume.
Science X: Phys.org, Medical Xpress, Tech Xplore

Mittlerweile hängt Thekla wieder ruhig von ihrem Spinnfaden, nichts deutet auf die eben vorbeigegangene REM-Phase hin. Ob sie dabei geträumt hat, bleibt unklar. Überhaupt, wie Thomas Nagel bereits in seinem in den 70er-Jahren erschienenen Aufsatz "Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?" festhält, ist uns die Erfahrungswelt von Tieren gänzlich unzugänglich. Wir können uns die Welt, wie sie Fledermäuse und Springspinnen erleben, nicht vorstellen. Wie können wir da sagen, sie würden träumen?

Doch wir neigen dazu, tierisches Verhalten zu vermenschlichen. Mag das bei Säugetieren eine gewisse Berechtigung haben, ist es bei so entfernten Verwandten wie Spinnen eher zweifelhaft. Rößler: "Nachdem ich hunderte Spinnen beobachtet habe, besteht für mich kein Zweifel, dass sie träumen, so wie niemand, der Hunden oder Katzen zusieht, das bezweifeln würde." Doch auch die Biologin räumt ein: "Ob wir das je wissenschaftlich beweisen können … wir werden sehen." (Dorian Schiffer, 9.8.2022)