Bleiben Sie auch im Türbereich stehen, oder trauen Sie sich in den Gang zwischen den Sitzen hinein?

Foto: Christian Fischer/Der Standard

Wenn man jahrelang in Wien lebt, hat man so seine Tricks, wie man die Öffis und im Speziellen die U-Bahn am besten nutzt: Wenn es die Zeit erlaubt und man der U-Bahn nicht hinterherrennt (Öffis und Männern läuft man sowieso nicht hinterher, hat mir ein Freund eingetrichtert), steigt man an jenem Ende des Zuges ein, an dem man beim Aussteigen nicht mehr weit zum U-Bahn-Aufgang hat. Man nennt das Effizienz.

Oder man geht zur Mitte des Bahnsteigs, denn dort sind die U-Bahn-Züge immer am leersten. Die Menschheit sucht eben den Weg des geringsten Widerstands und geht selten am Bahnsteig weiter als wirklich notwendig. Und dann lernt man noch, welche die besten Stehplätze in der U-Bahn sind: jene im Eingangsbereich, von den Vierersitzbänken mit Plexiglasscheiben abgetrennt, an denen man sich nur anzulehnen hat und nichts, aber auch gar nichts angreifen muss. Schon vor dem Hygienewahn der Corona-Pandemie waren das die besten Plätze.

Nur wenige Stationen

Doch hier liegt auch die Krux begraben: Umso mehr Leute diese Stehplätze bevorzugen, desto mehr bleiben auch im Türbereich stehen. Es ist wie verhext, denn egal wie voll oder leer die U-Bahn ist, im Eingangsbereich staut es sich immer, und im Gang, zwischen den Viererbänken, bleibt Freiraum en masse.

"Mit der U-Bahn fährt man oft nur zwei, drei Stationen. Da bleibt man gleich stehen, dann ist man gleich draußen", erklärt die Verkehrspsychologin Bettina Schützhofer das Alltagsphänomen von einer Sichtweise aus. Fährt man längere Strecken – ähnlich wie in einem Zug –, setzt man sich dann natürlich hin. Ein weiterer Aspekt sei die Überfüllung: "Man fühlt sich in der vollgestopften U-Bahn einfach nicht wohl. Dann bekommt man Fluchtgedanken und möchte schnell wieder hinaus." Und das ist im Eingangsbereich einfacher.

Alle raus bei einer Tür

Gabriel Wurzer, Professor für Digitale Architektur und Raumplanung an der TU Wien, kennt das Phänomen, das sich zum Beispiel auch bei Massenpaniken zeigt: In der U-Bahn haben die Menschen immer nur ein Ziel, und zwar eine Tür, um rauszukommen. Wurzer erklärt die Situation bei den Engstellen im U-Bahn-Zug weiter: "Was auftritt, ist, dass die Leute sich gegenseitig in und vor der Tür verkeilen. Da bildet sich dann so ein Batzen an Leuten." In der Forschung nennt sich das Faster-Is-Slower-Effekt (Schneller-ist-langsamer-Effekt): Je schneller sich die Leute auf eine Tür zubewegen, desto schneller verkeilen sie sich, und man kommt nur langsam oder gar nicht mehr weiter.

Zu enger Durchgang

Einen anderen Grund für das Im-Eingangsbereich-Stehenbleiben sieht Wurzer an den sozialen Sphären, die jede Person besitzt. Ganz nah lässt man zum Beispiel nur Familie und Partner oder Partnerin ran, in einem weiteren Abstand enge Freunde, noch weiter entfernte Bekannte und so weiter. "Wenn man in die U-Bahn steigt, dann hat man das Problem, dass andere in deine Richtung starren und die Sozialsphäre angreifen. Man sucht sich eine Ecke, die hinter einem geschlossen ist." Deswegen teilen sich die Leute im Türbereich so gut auf, weiß der Wissenschafter.

Warum dann die Leute nicht in den Gang zwischen den Vierersitzen gehen? "Die Durchgangsbreiten sind viel zu eng." Ist in der U-Bahn viel los, komme es bereits beim Reingehen in den Gang zu einem Menschenknäuel "aufgrund des Faster-Is-Slower-Effekts, und die Leute kommen nicht mehr raus. Man kann nur mit sehr viel Aufwand aneinander vorbei."

Wiener Vierersitze

Eine Längsbestuhlung, also dass die Sitze nur am Rand angeordnet sind wie zum Beispiel in den Londoner U-Bahn-Zügen, könnte laut Experten das Phänomen lösen. Doch das ist nach Auskunft der Wiener Linien auf ihren U-Bahn-Strecken nicht möglich. Die Vierersitze halten nämlich die maximal zulässigen Achslasten ein, eine durchgängige Längsbestuhlung auf den U-Bahn-Linien 1,2,3 und 4 sei deshalb nicht umsetzbar.

In der U5, die derzeit gebaut und voraussichtlich ab 2026 in Betrieb genommen wird, werden neue Wägen eingesetzt, die mehr Platz und vor allem weniger Verkeilung im Türbereich versprechen. "Zum ersten Mal gibt es stellenweise eine Längsbestuhlung. Beim Fahrzeugbau wurde großer Wert auf Gewichtseinsparungen gelegt, deshalb können dann insgesamt auch mehr Fahrgäste mitfahren als bisher." Das Platzbedürfnis der Passagierinnen und Passagiere steige immer mehr, weiß Daniel Amann von den Wiener Linien, dem komme man mit den neuen U-Bahn-Zügen nach.

Okay, neuer Trick für in ein paar Jahren: Mit der U5 fahren, da hat man dann mehr Platz, um im Eingangsbereich stehenzubleiben. (Kevin Recher, 22.8.2022)