Männerfreundschaft wird bei den Hells Angels großgeschrieben. Es gibt sie nicht, sagt Zargaran.

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Kassra Zargaran hat keine Angst vor Racheaktionen des Clubs.

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Kassra Zargaran kommt alleine zum Interview mit dem STANDARD, ohne Polizeibegleitung. "In Berlin, am Tag, fühle ich mich sicher", sagt er. Wo und wie er im Zeugenschutzprogramm lebt, kann er nicht sagen, denn der 35-Jährige hat aus Sicht des Rockerclubs Hells Angels Hochverrat begangen: Er stieg nach einem Mord in der Szene aus, wurde Kronzeuge und brachte acht Hells Angels aus Berlin ins Gefängnis. Seinen Auf- und Ausstieg beschreibt er in seinem Buch "Der Perser". Der Titel ist eine Anlehnung an seinen Spitznamen.

STANDARD: Herr Zargaran, wie wird man Mitglied des Rocker- und Motorradclubs Hells Angels?

Kassra Zargaran: Man rutscht rein. Ich verbrachte meine Kindheit und Jugend in Norderstedt, einer Kleinstadt von Schleswig-Holstein, nördlich von Hamburg. Dort war ich viel mir selbst überlassen. Ich war kräftig und konnte mich auf der Straße gut durchsetzen. Das hat mir Anerkennung verschafft.

STANDARD: Wie kamen Sie aus der schleswig-holsteinischen Provinz nach Berlin?

Zargaran: Zunächst war ich viel in Hamburg und lernte dort Leute aus dem Rotlichtmilieu kennen. Die haben mir imponiert, sie konnten sich viel leisten, fuhren schwere Autos und trugen teuren Schmuck. Heute ist mir klar, dass die ihre Minderwertigkeitskomplexe kompensiert haben und meist zugedröhnt waren. Aber ich gehörte dazu und war erst einmal Mitglied der "Legion 81", eines Supporter-Clubs der Hells Angels.

STANDARD: Und dann lernten Sie Kadir Padir kennen, den Chef des berüchtigten Berliner Clubs.

Zargaran: Ja, mir gefiel, dass bei den Hells Angels in dieser Zeit auch viele Migranten Aufnahme fanden. Da gab es ein Gemeinschaftsgefühl, das ich so nicht kannte.

STANDARD: Sie gaben alles auf und zogen für die Hells Angels nach Berlin.

Zargaran: Meine Freundin kam mit, aber wir mussten in Berlin neu anfangen. Die erste Zeit war hart, ich musste mich wirtschaftlich neu organisieren und jeden Monat 150 Euro in die Clubkasse der Hells Angels einzahlen. Das Geld wird etwa für die Bezahlung von Anwälten genutzt.

STANDARD: Wo arbeiteten Sie?

Zargaran: In der Sicherheitsbranche für das Musikgeschäft. Ich habe mal für die Sicherheit von Rihanna bei einem Berliner Konzert gesorgt. Das war schon eine Erweiterung des Horizonts. Die erste Zeit im Club war toll. Wir waren wie eine Familie.

STANDARD: In Ihrem Buch beschreiben Sie, dass diese "Familie" praktisch einen sehr großen Teil ihrer Lebenszeit beansprucht hat.

Zargaran: Hells Angel ist man rund um die Uhr. Man muss immer verfügbar sein. Ich war oft mit meiner Freundin und unserem Kind auf den Spielplatz, dann kam ein Anruf von Kadir Padir, und man musste los. Frau und Kind hab ich dann Geld in die Hand gedrückt, und weg war ich. Ich war kein guter Vater.

STANDARD: Was war Dringendes zu erledigen?

Zargaran: Die Hells Angels sind immer in Konflikt. Entweder mit der Polizei oder verfeindeten Rockerclubs wie den Bandidos. Dann heißt es: Geht mal in die und die Bar und zeigt Präsenz.

STANDARD: Wie weit geht "Präsenz zeigen"?

Zargaran: Bis zum Zuschlagen. Ich fand das damals normal. Es hat oft geknallt. Das bringt das Milieu mit sich. Das sind ja keinen netten Leute, die wollen immer nur Geld machen auf Kosten anderer. Es dominiert das Recht des Stärkeren, du musst dich immer durchsetzen. Der Stresspegel ist enorm.

STANDARD: Wer stresst mehr? Die Polizei oder andere Rockerclubs?

Zargaran: Ganz klar die Polizei. Die war in Berlin sehr gut organisiert und hatte uns immer im Blick. Und letztendlich hat sie die größeren Ressourcen und keinen Zeitdruck. Einmal bin ich sieben Mal an einem Tag kontrolliert worden. Das war eine Politik der vielen Nadelstiche.

STANDARD: Irgendwann gefiel es Ihnen dann nicht mehr so gut in der Rockergemeinschaft?

Zargaran: Zunächst hatte ich ja gedacht, die Hells Angels sind ganz anders als die Leute im Hamburger Rotlichtmilieu. Dort kämpften viele kaputte Existenzen nur für sich. Aber dann merkte ich: Bei den Rockern ist es nicht anders.

STANDARD: Was missfiel Ihnen?

Zargaran: Es hatte viel mit der Person des Chefs, Kadir Padir, zu tun. Eigentlich, vom Grundgedanken her, sind die Hells Angels organisiert wie die EU.

STANDARD: Da muss ich jetzt lachen …

Zargaran: Ein Mann, eine Stimme, jedes Vollmitglied hat Stimmrecht. Wir haben im Clubhaus viele Angelegenheiten besprochen und auch abgestimmt. Aber letztendlich wurde dann gemacht, was Kadir Padir befahl. Es flogen auch Leute raus, die ihm nicht mehr passten.

STANDARD: Gab es noch andere Zweifel?

Zargaran: Schwer irritierend fand ich, dass der Boss plötzlich mit einem Rocker auf besten Freund machte, der zuvor einen seiner Kumpel erschossen hatte – nur weil es gerade ins Konzept passte. Mir wurde langsam klar: An die Spitze der Hells Angels kommt man nur mit roher Gewalt.

STANDARD: Hatten Sie irgendwann den Gedanken auszusteigen?

Zargaran: Ja. Aber ich tat es zunächst nicht. Außerhalb der Hells Angels hatte ich ja keine Freunde. Meine Beziehung war auch kaputt.

STANDARD: Dann kam der 10. Jänner 2014, der Tag, der alles änderte.

Zargaran: Es hieß, wir sollten ein Wettbüro in der Residenzstraße, wo den Bandidos nahestehende Leute verkehrten. Wir sollten Präsenz zeigen. Das hieß, auch mal wem auf die Schnauze zu hauen.

STANDARD: Um am Ende lag ein 26-jähriger Mann erschossen am Boden.

Zargaran: Wir sind zu zwölft vermummt hinein, irgendwer hat geschossen. Ich erinnere mich noch an das Geräusch. Bumm, bumm, bumm. Und da wusste ich: Ich muss da raus, das war‘s. Die haben den einfach erschossen.

STANDARD: Sie haben sich aber nicht gestellt.

Zargaran: Nein, zunächst war ich in Panik. Der ganze Club war in Panik, alle rotierten und wollten ihre Haut retten. Vom Chef kam die Ansage, das sei nun mal passiert, man müsse es akzeptieren. Die Anwälte würden sich drum kümmern.

STANDARD: Drei Wochen nach der Tat wurden Sie verhaftet. Fühlten Sie irgendwann Reue? Da war ein Mensch tot.

Zargaran: Zunächst nicht. Nein. Das kam erst später. Ich war dann auch der Einzige, der sich bei der Familie des Opfers entschuldigt hat. Zuerst wollte ich mich selbst retten. Ich hatte bald das Gefühl, die Anwälte der Hells Angels sind nur dazu da, um Schaden vom Club und vom Chef abzuwenden. Ich wäre verheizt worden. Aber meine damals neue Partnerin besorgte mir einen Anwalt, der nichts mit der Szene zu tun hatte.

STANDARD: Der machte Sie mit der Kronzeugenregelung vertraut.

Zargaran: Ich war bereit, mit der Staatsanwaltschaft zu kooperieren und auszusagen. Dort machte man mir klar, es gibt dafür keine Geschenke. Und so war es auch. Ich saß jahrelang in U-Haft, bis es zum Prozess kam, und führte unendliche Gespräche mit den Kriminalbeamten über den Club.

STANDARD: Hatten Sie in der Zeit Angst? In der Szene gelten Sie als Verräter.

Zargaran: Es war die einzige Chance. Mein Anwalt versuchte mich vorzubereiten, was auf mich zukommt. Und ich verriet niemanden. All die oft beschworenen Werte bei den Hells Angels – vom Zusammenhalt und der Brüderlichkeit – gab es ja gar nicht. Die sind organisiert wie die Mafia und stehen sich selbst am nächsten. Ob da ein Falscher in Haft saß, war denen egal, solange sie selbst heil davonkamen. Bei manchen steht der Geschäftssinn im Vordergrund, andere haben eine sadistische Ader.

STANDARD: Acht Ihrer "Mitbrüder", darunter Kadir Padir, der den Mord befohlen hat, bekamen lebenslänglich, Sie waren nach sechs Jahren frei.

Zargaran: Ich habe das Urteil nicht gefällt und mir die Strafe nicht gegeben. Jedem stand es offen, sich zu äußern, ich habe die Chance genutzt.

STANDARD: Wie leben Sie heute?

Zargaran: Dazu kann ich aus Sicherheitsgründen wenig sagen. Nur so viel: Es ist ein ruhiges Leben, und ich zahle meine Steuern. Ich arbeite viel mit benachteiligten Jugendlichen und versuche, ihnen klarzumachen, dass die Mitgliedschaft bei einer Rockervereinigung nicht das Lebensziel sein sollte.

STANDARD: Haben Sie manchmal Angst vor Rache? Sie tragen immer noch Ihre auffälligen Tätowierungen.

Zargaran: Die gehören zu mir und meiner Lebensgeschichte. Angst habe ich keine. Ich saß so lange in Isolationshaft, da war meine Lebensqualität bei null. Daran erinnere ich mich gelegentlich, und dann bin ich einfach nur froh, dass ich jetzt meine Freiheit habe. Und es gibt auch einen sehr guten Draht zur Polizei. (Birgit Baumann, 11.8.2022)