Als Zeichen der Solidarität mit der Ukraine verweisen Klebestreifen am Wiener Karlsplatz auf den schmalen Grat zwischen Krieg und Frieden.
Foto: M. Nagl

Dicke, schwarze Linien, auf Glas aufgebracht, verschwinden im Hintergrund des regen Treibens auf dem Wiener Karlsplatz. Die Klebestreifen, die ein faszinierendes geometrisches Muster bilden, können zugleich Ausdruck einer tödlichen Gefahr sein: Im Krieg werden sie als Schutzmaßnahme vor Glassplittern bei Explosionen auf Fenster montiert – so derzeit auch in der Ukraine.

Die Installation verweist auf diese Praxis: Als Teil ihres weltweiten Projekts Theory of Protection signalisiert die ukrainische Künstlerin Daria Koltsova damit Solidarität mit der Ukraine und zeigt die Fragilität von Frieden auf.

"Die in die Fenster geklebten Bänder können Leben retten. Aber sie sprechen auch von einer Wunde – einem Ort, der schmerzt, der noch ganz ist, aber in jedem Moment zu Staub werden kann", sagt die polnische Kuratorin und Forscherin Ewa Sułek über das Projekt, das schon 2017 Teil der Ausstellung Zustand der Gefahr in Warschau war.

Der Zustand der Gefahr

Koltsova wurde bereits 2014 auf die Praxis des Klebens aufmerksam, als Russland die Krim annektiert hat und der Osten der Ukraine bombardiert wurde. Von den Klebestreifen auf den Fenstern fasziniert, begann die Künstlerin die unterschiedlichen Muster zu sammeln. Sie sah darin eine Affinität von Tod und Kunst und rief schließlich ihr Projekt Theory of Protection ins Leben. Mit dem Titel verweist sie auf ihre veränderte Lebensrealität: Sicherheit war für die Künstlerin nach den Vorgängen von 2014 nur noch eine Theorie, Frieden eine Illusion.

Von Anfang an stand der Verlust dieser Geborgenheit auch im Zentrum des Projekts. Dabei verschwimmen die Grenzen zum künstlerischen Aktivismus: 2016 beklebte Koltsova auf Einladung des Kurators Nadim Samman bei der Biennale der jungen Kunst in Moskau die Fenster einer alten Fabrik. Ein gefährliches Vorhaben für alle Beteiligten – doch es glückte: Die Klebestreifen-Installation durfte bleiben.

Die Künstlerin beklebte bei der Biennale der jungen Kunst in Moskau Fenster einer alten Fabrik.
Foto: The Viennale of Young Art

Zeichen der Solidarität

Nach dem Angriffskrieg der russischen Truppen auf die Ukraine 2022 erlangten die Kunstwerke neue Bedeutung. Als Zeichen der Solidarität schlossen sich über 200 kulturelle und diplomatische Einrichtungen auf fünf Kontinenten Koltsovas Initiative an und machten das Leid der Menschen im Ukraine-Krieg sichtbar. Nach Installationen in Städten wie Marseille, Bukarest und New York folgt nun Wien: Die Initiative ist Vorbote einer für November geplanten Ausstellung mit ukrainischen Kunstschaffenden im Künstlerhaus.

Die Entscheidung, die Installation im öffentlichen Raum – direkt in der Passage am Karlsplatz– anzusiedeln, spiegelt die Natur des Projekts wider. Die grafischen Muster auf den Glasscheiben am Karlsplatz verschwimmen beim Vorübergehen – man kann dies auch als Analogie darauf sehen, wie sich eine Gesellschaft an den Ausnahmezustand gewöhnt. Hakt sich der Blick jedoch fest, sind die gezeichneten Gitter vereinnahmend.

"Der Zustand der Gefahr ist der Moment, in dem nichts passiert. Es ist ein Moment der Ungewissheit und der Beobachtung, ein Moment der Wachsamkeit und Zurückhaltung, ein Moment einer kleinen Stabilisierung", schreibt Sułek im Text zur Ausstellung. Der Grat zwischen Krieg und Frieden ist schmal, der Abgrund ist tief. (Laura Kisser, 11.8.2022)