Im Gastblog klärt Sexualberaterin Nicole Siller darüber auf, was Frauen für den Orgasmus brauchen.

Womit wir schon mitten im Thema sind. Solange sich unsere Vorstellungen von Sexualität stark auf Geschlechtsverkehr und einen raschen Orgasmus, seine Ejakulation fokussieren, hängen wir in heteronormativen Mustern. Für weibliche Lust und Orgasmen braucht es mehr: Wissen, Neugierde, oft Entspannung, Ehrlichkeit, manchmal Zeit, Hingabe, vielleicht auch einmal wieder liebevollen Forschergeist.

Frauen kommen nicht schwieriger zum Orgasmus

Man(n) muss einfach nur wissen, wie. Warum gibt es hier bisher so einen Unterschied? Weil "echter Sex" zu oft mit dem Eindringen des Penis in die Vagina verbunden wird? Für viele Menschen ist Sex untrennbar mit Geschlechtsverkehr verbunden. Weil lustvolle Sexualität, die erregende Freude macht, oft als "Vorspiel" abgetan wird und somit einen ganz anderen Stellenwert als der reine Geschlechtsverkehr bekommt?

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Laut einer Studie aus dem Jahr 2017 der Chapman University in den USA haben 95 Prozent der heterosexuellen Männer Orgasmen im sexuellen Spiel mit Frauen, ähnlich viele durch Solosex, also Selbstbefriedigung. Wie das bei Frauen ist? 91 Prozent der Frauen genießen Orgasmen bei Solosex, 86 Prozent der Frauen bei Sex mit Frauen, aber nur 65 Prozent der Frauen beim Sex mit Männern. Warum diese Unterschiede, dieser Gap? Woran liegt es? An der ewig lange unterdrückten Lust der Frauen, die zu oft abgewertet wurde? Weil die weibliche Lust nicht zur Fortpflanzung nötig ist? Daran, dass viele Frauen lieber Orgasmen vorspielen, weil sie tendenziell mehr Zeit zu Höhepunkten brauchen als Männer? An Männern, die nicht wissen, wie Frauen lustvoll befriedigt werden wollen, ja, auch die gibt es, oder Männer, die glauben, es ist eh alles paletti?

Was wir im Biologieunterricht nicht gelernt haben

Die Klitoris ist das einzige menschliche Organ, das ausschließlich dem Lustgewinn dient. Sie ist viel größer als diese kleine Perle, die wir sehen können und an der so gerne gerubbelt wird. An dieser Klitorisspitze kommen übrigens rund 8.000 Nervenenden zusammen. Zum Vergleich: In der Eichel, dem anatomischen männlichen Pendant, sind es rund halb so viele Nervenenden.

Diese Perle, auch Klitorisköpfchen genannt, ist also hoch empfindsam, und manchmal ist hier weniger deutlich mehr. Was wir nicht sehen: Unter den Vulvalippen verlaufen die empfindsamen Klitorisschenkel, die bisher oft vernachlässigt werden, weil sie ja auch selten bis nie abgebildet werden. Diese Klitorisschenkel gab es dennoch immer schon. Sie umschließen auch die Vagina und strecken sich Richtung Anus, sie sind mit dem Beckenboden im wahrsten Sinne des Wortes gut vernetzt und schwellen bei Erregung an, die Durchblutung läuft auf Hochtouren. Weshalb es auch hoch erotisch sein kann, am Po oder unteren Rücken oder an den oberen Innenseiten der Oberschenkel berührt zu werden. Weibliche Orgasmen können vielfältig ausgelöst werden, die Klitoris ist bei den meisten Frauen fast immer, in welcher Art auch immer, involviert. Übrigens, die Stimulation der G-Zone, einer leicht angerauten Fläche in der Vagina, wenige Zentimeter nach deren Eingang an der zum Nabel hingewandten Seite, ist für viele Frauen auch sehr lustvoll.

Weibliche Anatomie "neu" entdecken

Wird also die weibliche Anatomie bisher nicht ausreichend verstanden? Erliegen wir noch zu männlichen Sichtweisen auf die Sexualität? Wir beginnen ja gerade erst ganz neu, die weiblichen Geschlechtsteile mitsamt der gesamten Klitoris korrekt darzustellen. Entsprechendes Wissen ist noch nicht überall selbstverständlich. Sehr viele Frauen kommen eben nicht durch Geschlechtsverkehr, einen raschen Kuss und dann Penetration, sondern durch die Stimulation der Klitoris zu Orgasmen. Das mit dem Klitorisköpfchen ist ja heute vielen aufgeklärten Menschen bekannt und lässt auch die Vibratorenbranche im wahrsten Wortsinn brummen.

Lasst uns den Orgasmus-Gap schließen

Doch wie gelingen mehr orgiastische Höhepunkte beim Sex zwischen Frauen und Männern? Gemeinsam. Guter Sex ist der, der uns selbst guttut und in dem wir einander in unserer Erregung gut spüren. Zu viele Frauen, das erlebe ich sehr häufig, nehmen ihre Bedürfnisse zurück, damit "er" kommt. Eh schön und lieb, aber hallo: Bringen wir Frauen uns doch deutlicher ins erotische, sexuelle Spiel!

Es braucht einerseits den Wunsch und Willen, ja auch Mut und Selbstverständnis von Frauen, ihre Bedürfnisse deutlicher selbst wahrzunehmen und zeigen zu können. Und ja, dann dauert es eben auch einmal länger. Spielen wir doch bitte keine Orgasmen mehr vor!

Es braucht dann Männer, die "die Neuentdeckung der Sexualität" mit ihren Frauen als Lustgewinn erleben wollen und selbstbewusst genug sind, bisher angelernte Verhaltensweisen zu verändern. Ja, es darf die eigene "Komfortzone der Sprachlosigkeit" gedehnt und verlassen werden. Was auch noch hilfreich sein kann: Wissen, dass viele Frauen Zärtlichkeiten, Berührungen und entspannte Zeit genießen. Braucht es eben in der "Erneuerungsphase" Geduld, Forschergeist und gemeinsames Probieren.

Wollen wir nicht alle mehr glückselige Momente der Ekstase, ja, auch der Orgasmen? Dann schauen wir doch nach vorn und entdecken wir einander und uns selbst liebe- und lustvoll wieder. (Nicole Siller, 12.8.2022)