Ukrainische Proteste für die Einhaltung der Sprachengesetze.

Foto: imago/NurPhoto/Dominika Zarzycka

Kriege werden nicht nur auf dem Schlachtfeld ausgetragen, sondern hinterlassen auch in Sprache, Kunst und Kultur ihre Spuren. Russlands Präsident Wladimir Putin begründete seinen Überfall auf die Ukraine im Februar mit dem Schutz der russischsprachigen Bevölkerung. Die Kreml-Propaganda predigte schon Monate zuvor das Naheverhältnis der beiden Völker und verunglimpfte das Ukrainische als erfundene Sprache. Der Sprachwissenschafter Michael Moser klärt auf, dass das Unsinn ist, erklärt historische Entwicklungen und analysiert, welche Spuren der Krieg in der ukrainischen Sprache hinterlassen könnte.

STANDARD: Viele Menschen glauben, dass sich Russisch und Ukrainisch sehr ähnlich sind. Wie sieht das die Sprachwissenschaft?

Moser: Das Gedankengut, dass Russisch und Ukrainisch quasi die gleiche Sprache seien, wird seit Jahrhunderten von der russischen Propaganda geschürt und die Ähnlichkeit traditionell überschätzt. Die beiden Sprachen haben etwa so viel gemeinsam wie Spanisch und Portugiesisch oder vielleicht sogar Französisch und Italienisch. Russisch und Ukrainisch gehören zur slawischen Sprachenfamilie und haben damit ein gemeinsames Erbe. Außerdem waren die beiden Sprachen jahrhundertelang im Kontakt. Deshalb gibt es viele russische und polnische Entlehnungen im Ukrainischen und umgekehrt. Der gemeinsame Wortschatz mit dem Polnischen ist größer als mit dem Russischen, wenngleich das Russische mit dem Ukrainischen näher verwandt ist. Polnischsprachige und Ukrainischsprachige verstehen einander jedenfalls besser als Ukrainischsprachige und Russischsprachige. Das ist besonders eindeutig bei der ukrainischen Diaspora zu beobachten, die aus biografischen Gründen keinen Umgang mit dem Russischen hatte.

STANDARD: Wie sah der Sprachgebrauch in der Ukraine in den letzten Jahren aus?

Moser: Der Großteil der ukrainischen Bevölkerung beherrscht das Russische zumindest passiv, meist aber auch aktiv. Diese Mehrsprachigkeit ist jedoch nicht natürlich, sondern das Ergebnis einer gemeinsamen Geschichte, die nicht immer auf Freiwilligkeit beruhte, sondern von Machtausübung und Machtmissbrauch geprägt ist. 1863 hieß es etwa in einem Sprachenverbotsgesetz im damaligen russischen Zarenreich, "dass es die ukrainische Sprache nicht gab, gibt und geben kann". Wenn dem so ist, drängt sich die Frage auf, warum man die Sprache dann verbieten wollte …

STANDARD: Wie entwickelte sich die Sprachgeschichte in der Ukraine weiter?

Moser: Es ist erwiesen, dass die russische Sprache erst Mitte des 17. Jahrhunderts in die Ukraine gelangte. Davor wurde nie Russisch gesprochen. Damals wurden erstmals gezielt russischsprachige Soldaten und Kaufleute aus dem Moskauer Zarenreich angesiedelt. Einen größeren Zustrom Russischsprachiger gab es erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Zuge der Industrialisierung in größeren Städten. Dieser Umstand spiegelt sich auch im heutigen Sprachgebrauch wider: Während etwa die Stadt Charkiw mehrheitlich russischsprachig ist, überwiegt im gesamten Umland der Oblast Charkiw die ukrainische Sprache. Die Behauptung, dass der gesamte Süden und Osten der Ukraine russischsprachig seien, ist blanker Unsinn.

STANDARD: Wie sah Sprachpolitik in der Sowjetunion aus?

Moser: In Sowjetzeiten wurde das Ukrainische auf dem Papier mit dem Russischen gleichgestellt und sogar gefördert. Da die Sowjetunion aber ein Imperium des Bösen war, wollte man das Ukrainische nicht in der Hochkultur sehen, sondern bevorzugt auf Volkstheaterbühnen mit ukrainischen Tänzen und Trachten.

STANDARD: Wie entwickelte sich die Sprachpolitik in der Ukraine nach 1991?

Moser: Die Staatssprache eines unabhängigen Landes sollte von der Bevölkerung beherrscht werden. Es ist daher nur folgerichtig, dass das Ukrainische etwa im Bildungsbereich gefördert wurde. In Schulen wurde aber zunächst sehr zaghaft auf Ukrainisch umgestellt. Ich glaube, dass sich die Situation erst 2014 – mit dem Beginn der russischen Aggression – dramatisch änderte. Seither lassen es sich immer weniger Eltern gefallen, wenn Lehrerinnen und Lehrer das Sprachengesetz missachten und auf Russisch unterrichten.

STANDARD: Welche gesetzlichen Maßnahmen wurden seit der Unabhängigkeit der Ukraine getroffen?

Moser: 2012 wurde ein Sprachengesetz verabschiedet, das ein klassischer Ausdruck der absurden Russifizierungspolitik der Handlanger Russlands war. Man wollte unter dem Deckmantel des Schutzes der Regionalsprachen die Staatssprache aushebeln. Dieses Gesetz wurde erst 2019 durch ein neues Sprachengesetz abgelöst, das vor allem durch die ukrainische Zivilgesellschaft herbeigeführt wurde und die ukrainische Sprache stärker als je zuvor fördert.

STANDARD: Wie hat sich das Sprachengesetz von 2019 auf den Sprachgebrauch ausgewirkt?

Moser: Der Gebrauch der ukrainischen Sprache nimmt zwar nur langsam zu, aber man kann eine zunehmende Sprachloyalität beobachten. In meinem zweiten Zuhause Kiew etwa hörte man zuletzt häufiger Ukrainisch als noch vor 15 bis 20 Jahren. Zugleich wurde das Russische in Schulen zurückgedrängt. Es gibt aber nach wie vor russischsprachigen Unterricht. Das ist auch gut so. Diese Schulpolitik wird glaubwürdigen Umfragen zufolge auch von einer breiten Mehrheit der Bevölkerung unterstützt. Viele russischsprachige Eltern wollen, dass ihre Kinder besser Ukrainisch sprechen als sie selbst.

STANDARD: Wie sieht der Sprachgebrauch in der ukrainischen Medien- und Kulturlandschaft aus?

Moser: Das Ukrainische wurde in den letzten Jahren gestärkt, wenngleich gerade im Fernsehen der Anteil des Russischen zumindest 2020 noch leicht größer war als der Anteil des Ukrainischen. Ich gehe aber davon aus, dass man Russisch künftig weniger in den Medien hören wird, da man die Sprache nun stärker denn je mit dem Aggressor assoziiert.

STANDARD: Viele ukrainische Kulturschaffende verwendeten bei ihren Auftritten vor dem Krieg sowohl Russisch als auch Ukrainisch. Wird sich das ändern?

Moser: Ich denke, dass sich das insbesondere im Hinblick auf die relative Freiheit der ukrainischen Gesellschaft ändern wird. Abgesehen von dem Verbot mancher russischer Fernsehsender, was seit dem 24. Februar auch niemanden in Europa mehr wundern sollte, herrscht in der Ukraine relative Freiheit. In der Russischen Föderation sieht die Situation völlig anders aus. Der bekannteste russischsprachige ukrainische Schriftsteller Andrej Kurkow ist in der Russischen Föderation schon lange verboten. Das russische Regime kann schließlich nur mit Menschen umgehen, die genau solche Zombies sind wie sie selbst.

STANDARD: Sehen Sie eine Abkehr von der russischen Sprache und Kultur?

Moser: Die russische Sprache, Literatur oder Kultur als solche wird nicht abgelehnt. Zugleich sind die Menschen aber kritischer geworden und hinterfragen mehr. Sie nehmen das imperiale Gedankengut, das auch in der russischen Hochliteratur zu beobachten ist, deutlicher wahr. Der Anteil der Russinnen und Russen in der Ukraine ist darüber hinaus auf ein Allzeittief gesunken. Das hängt damit zusammen, dass diese Menschen nicht mit dem Aggressor in Verbindung gebracht werden wollen. Sie geben in Gesprächen zwar an, russischsprachige Eltern oder Eltern aus Russland zu haben, begreifen sich aber als Teil der ukrainischen Nation und identifizieren sich mit der Kultur und Sprache der Ukraine. Die ukrainische Gesellschaft ist in Bezug auf die eigene Identität selbstbewusster geworden.

DER STANDARD: Wie äußert sich das?

Moser: Schon seit der Unabhängigkeit der Ukraine gab es ein Aufblühen der ukrainischen Literatur und Musik. Das Ukrainische wird gefördert, das Russische zugleich nicht mit Abscheu wahrgenommen. Auch an der Front stehen ukrainische Soldatinnen und Soldaten, die russischsprachig sind. Keiner dieser Menschen würde hingegen die Existenz der ukrainischen Sprache leugnen. Genau das ist der Punkt, an dem sich die Geister scheiden, und nicht der, welche Sprache gesprochen wird. Die Sprachenfrage beschäftigte die Leute kaum und wurde von der Politik aufgebauscht.

STANDARD: Wie steht es um den vielgenannten Schutz der russischsprachigen Bevölkerung?

Moser: Das Russische ist in der Ukraine durch eine Reihe von Gesetzen, Verträgen und nicht zuletzt durch die Verfassung selbst geschützt. Derjenige, der die russische Sprache aus der Ukraine vertreibt, ist niemand anderer als derjenige, der russischsprachige Städte dem Erdboden gleichmacht. Das ist die brutale Paradoxie der sogenannten russischen Welt.

STANDARD: Das heißt, man ist als russischsprachige Person in der Ukraine nicht schlechtergestellt?

Moser: Tatsache ist, dass man als russischsprachige Person in der Ukraine nicht diskriminiert wird. Im Gegenteil: Bestellt man in einem Restaurant etwas auf Russisch, wechseln die meisten Menschen automatisch ins Russische. Das ist gesetzlich auch zugelassen. Traditionell konnten sich eher Ukrainischsprachige in der Ukraine diskriminiert fühlen, da es etwa Gebrauchsanweisungen oder Speisekarten nur auf Russisch gab. Mittlerweile kann man sich in diesen Fällen an einen Sprachbevollmächtigen wenden, der für die Einhaltung des häufig missachteten Sprachengesetzes aus dem Jahr 2019 zuständig ist.

STANDARD: Wie steht es umgekehrt um den Schutz der Minderheitensprachen in der Russischen Föderation?

Moser: Die russische Welt steckt voller Absurditäten. Es gibt offiziell mehrere Staatssprachen, die auf dem Papier auch gefördert werden. Mit der Realität hat das sehr wenig zu tun. Es gibt auch keine ukrainischsprachigen Schulen für die zweitgrößte Minderheit in der Russischen Föderation. Das Argument von russischer Seite lautet, dass das Ukrainische und Russische einander so nah stünden, dass man sie nicht benötigen würde. Wenn dem so ist, drängt sich eigentlich die Gegenfrage auf, warum es dann russischsprachige Schulen in der Ukraine braucht.

STANDARD: Wie sehen Sie die sprachliche Zukunft der Ukraine?

Moser: Im Alltag wird die Ukraine mehrsprachig bleiben. Das Russische wird weiterhin präsent sein, aber sein gesellschaftlicher Status ist dank der russischen Aggression weiter gesunken. Ich bin davon überzeugt, dass die Sprachenfrage nur ein vorgeschobener Kriegsgrund ist und sich die Russische Föderation gerade richtig das Genick bricht. Im Rahmen der Sprachpolitik halte ich es dennoch für wichtig, dass künftig zusätzlich zum Sprachengesetz aus dem Jahr 2019 ein weiteres Gesetz für die Minderheitensprachen erlassen wird. Diese Arbeit war bereits im Gange, aber derzeit hat man in der Ukraine andere Probleme. (Judith Moser, 15.8.2022)