Der Jamtaler Gletscher wird bald Geschichte sein.

Foto: Stefan Joham

Auf Postkarten sind Gletscher meist bläulich-weiße Eisriesen, majestätisch und unvergänglich. Mit solchen Bildern hat der Anblick des Jamtalgletschers nichts mehr gemein. Die Gletscherforscherin Andrea Fischer hat uns in ihrem Pick-up zum Gespräch in der Jamtalhütte und anschließender Wanderung mitgenommen, um zu zeigen, was in diesem Sommer der Hitzerekorde auf dem Gletscher los ist. "Diese graue Suppe ist jetzt der Gletscher", deutet sie hinter ihrem Lenkrad empor. Vor ein paar Jahren habe der obere Teil des Jamtalferners im August noch weiß geschimmert, weil er von Schnee bedeckt war.

Der Jamtalgletscher, unweit vom Tiroler Skiort Galtür, ist geschrumpft zu einer grauen Fläche, aus der alle ein bis zwei Meter mannshohe scharfkantige Felsen ragen. Die sind vor relativ kurzer Zeit heruntergefallen. Weil der Gletscher immer schneller schmilzt. Weil er stirbt.

Der Jamtalgletscher ist nur rund 800 Jahre alt. Weil er tief liegt, zwischen 3100 und 2400 Metern, ist er erst um das Jahr 1200 entstanden, als es in den Alpen kühler wurde. Für einen Gletscher ist der Jamtalferner relativ jung, die Pasterze und der Gepatschferner sind zum Beispiel um Jahrtausende älter, sie liegen zu großen Teilen höher.

DER STANDARD

Sterbebegleiterin im Schnee

Im Jahr 1850 maß der Jamtalgletscher noch rund sechs Quadratkilometer. Mittlerweile sei er auf ein Drittel davon abgeschmolzen, erzählt Fischer, die am Institut für Interdisziplinäre Gebirgsforschung der Akademie der Wissenschaften arbeitet. "Der Gletscher verliert sein Nährgebiet, das ist wie bei einem Palliativpatienten, der nichts mehr essen kann", sagt sie. Ein Gletscher ernährt sich von Schnee. Ein Meter Schnee wird in 30 Jahren zu zehn Zentimetern Eis. Andrea Fischer erforscht den Gletscher seit dem Jahr 2000, sie ist gleichsam seine Sterbebegleiterin: "Wir erleben seine letzten Atemzüge."

Die Alpen haben rund 4.000 Gletscher, 900 davon in Österreich – in diesem Jahr schmelzen sie im Rekordtempo. Die Temperatur steigt in den Bergen im Durchschnitt schneller als in der Ebene. Seit 1850 ist es weltweit um rund 1,5 Grad wärmer geworden, in den Alpen ist es etwa doppelt so viel. Nun gerät im Gebirge manches ins Rutschen, das Gletschereis wirkte bisher wie ein Stützverband.

Am Jamtalgletscher hat sich eine Eishöhle gebildet, er schmilzt auch von unten.
Foto: Stefan Joham

Negativschlagzeilen dokumentieren den Wandel: An Italiens Marmolata, dem höchsten Berg der Dolomiten, kam es wegen des warmen Wetters Anfang Juli zu einem Gletscherbruch – eine Eisplatte riss elf Menschen in den Tod. Hierzulande machte ein Video vom Hintertuxer Gletscher die Runde, auf dem Skifahrer durch Schmelzwasser gleiten (bei den Zillertaler Gletscherbahnen betonte man, das Video sei älter, räumte aber ein, es sehe in diesem Sommer ähnlich aus). Dass der ÖSV seine Skifahrerinnen und Skifahrer zum Trainieren nach Südamerika schickt, weil es selbst in den höchsten Bergen der Schweiz zu warm sei, kann kaum mehr überraschen. Es sind Notizen eines angekündigten Todes der Alpengletscher.

Auf Grau folgt Grün

Wenn man von der Jamtalhütte in Richtung Gletscher geht, sieht man am Anfang noch viele Flechten, Blumen und Bäume, und je näher man der Eismasse kommt, umso karger wird die Landschaft. Wo man heute spaziert, lag vor wenigen Jahrzehnten ja noch ganzjährig Eis. Die Natur erobert die nun eisfreie Fläche ziemlich schnell zurück, es sprießen hier und dort Pionierpflanzen. Deshalb trösten sich die Touristiker unten in Galtür damit, dass der einstmals weiße Berg zwar bald ein nackter Fels sein wird, aber danach rasch ergrünen dürfte.

Glaziologin Fischer weiß, dass es für die Alpengletscher keine Hoffnung mehr gibt. Es seien schon zu viele Treibhausgase in der Atmosphäre und noch die nächsten 30 Jahre lang aktiv. Selbst wenn die Menschen wider alle Erwartung ab heute kaum neues CO2 ausstoßen würden, wäre es für die Alpengletscher zu spät. Wenn man allerdings die menschengemachte Erwärmung auf 1,5 Grad begrenzt, könnten sie wiederkommen, sagt Fischer.

Betritt man unter ihrer Anleitung den schrumpfenden Gletscher, sieht und hört man einen gewaltigen Gletscherbach. Sein Wasser ist milchig grau, weil mit dem Schmelzwasser auch jede Menge Sand ins Paznauntal gespült wird. An einer anderen Stelle ragt eine Felsinsel aus dem Eis, wie ein Stück Knochen. Alle paar Minuten hört man einen Felsblock irgendwo am Gletscher hinunterstürzen. Der rauschende Gletscherbach und die plumpsenden Felsen sind der Sound des Klimawandels.

Die Glaziologin Andrea Fischer ist die
Sterbebegleiterin des Gletschers.
Foto: Stefan Joham

Zerfall wird immer schneller

Es ist nicht nur die Sommerhitze, die dem Gletscher zu schaffen macht, es ist auch der fehlende Schnee im Winter. In gewöhnlichen Jahren sei hier 4,20 Meter hoch Schnee gefallen, erzählt Fischer, heuer waren es nur drei Meter. Da weiße Flächen mehr Sonnenlicht reflektieren als dunkle, schmilzt der Jamtalgletscher gerade rasant, es gibt Rückkopplungseffekte. "Der Zerfall wird zum Schluss hin immer schneller", sagt Fischer.

Die Jamtalhütte ist vom Deutschen Alpenverein im Jahr 1882 errichtet worden, dicht an der Gletscherzunge. Heute wandert man von hier mehr als eine Stunde zum Gletschertor, so viel Raum hat das Eis eingebüßt.

Ähnlich ist es mit der Berliner Hütte in den Zillertaler Alpen und dem Defreggerhaus am Großvenediger. Auch dort liegt immer mehr blanker Stein zwischen Eismasse und Unterkunft. In Galtür gab es einst sogar Diskussionen, ob man den Jamtalgletscher zum Sommerskigebiet machen solle. Die Bewohner entschieden sich 1976 dagegen. Heute hat sich die Frage erübrigt, das Skigebiet wäre buchstäblich den Gletscherbach heruntergegangen.

Klimaarchiv im Eis

Dass ein deutscher Geograf, Georg Heinrich Greim, und einige Einheimische bereits im 19. Jahrhundert mit der Vermessung des Jamtalgletschers begannen, hilft der Forschung von Fischer. Messungen an Gletschern wie im Jamtal ermöglichen Aussagen über den Klimawandel. Dazu muss man wissen: Die Menschheit lebt seit rund 11.000 Jahren im Holozän, einer Warmzeit. Von etwa 1250 bis 1850 gab es aber eine kühle Periode, die Kleine Eiszeit. Auch dank der Gletscherforschung wissen wir, dass es heute selbst fürs Holozän zu heiß wird, der Klimawandel also menschengemacht ist.

Historische Daten gewinnt die Forscherin auch durch Eisbohrkerne, die sie aus der Tiefe des Eises holt. Der Jamtalgletscher ist ein Klimaarchiv, das in ein paar Jahren verschwunden sein wird. Selbst das Eis an der Oberfläche enthalte Luftbläschen, die etwa 300 Jahre alt sind, sagt Fischer. Das Gletschereis erzählt uns, wie viel CO2 damals in der Luft war oder welche Pflanzenarten in der Region wuchsen.

Auch alle anderen Gletscher in Österreich werden laut Forschern bis zum Ende dieses Jahrhunderts wohl verschwunden sein. Die große Schmelze in den Alpen bringt einige Veränderungen mit sich. Weil die Gebirge instabil werden, kann es mancherorts für Bergsteiger und ganze Siedlungen gefährlich werden. In einem Europa ohne Gletscher werden die Flüsse weniger Wasser führen. Es wird zwar negative Auswirkungen auf die Stromproduktion und die Binnenschifffahrt geben. Ein Horrorszenario für die Menschen in den Alpen ist das nicht, denn der Wasserhaushalt hier verdankt sich vor allem dem Niederschlag.

Die Kapelle neben der Jamtalhütte liegt heute weit vom Eis entfernt.
Foto: Stefan Joham

Pfiat di, Gletscher

In anderen Erdteilen hat der Gletscherschwund für den Menschen aber verheerende Folgen. Die Himalaya-Regionen in Indien, Pakistan und Nepal brauchen das Schmelzwasser der Gletscher für Trinkwasser, Kraftwerke und die Landwirtschaft. Das Wasser aus den Bergen ermöglicht Zivilisation und Leben. Dasselbe gilt für die tropischen Gletscher der Anden. Manche Andengletscher ragen bis 20 Kilometer an die Großstädte, von den Eisflächen hängt die Wasserversorgung von Peru ab. Eine Patentlösung gibt es nicht.

Im Jamtal könnten mit dem Gletschertod zumindest Muren drohen, Sorgen ums Trink wasser macht man sich in Galtür aber nicht. Sarah Mattle, die drei Apartmenthäuser führt und Chefin des Alpin Clubs Galtür ist, bietet seit 2020 eine Tour mit dem Namen "Pfiat di, Gletscher" an. Man wolle die Urlauber zum Nachdenken anregen, sagt sie. "In meiner Kindheit sind wir von der Hütte eine halbe Stunde zum Gletscher gegangen. Jetzt geht man über eine Stunde", sagt die 34-Jährige. Wie andere Bewohner von Galtür erlebt sie Erdgeschichte im Zeitraffer. "Man sollte auch das Positive sehen. Es entstehen neue Wege, neue Landschaften", sagt sie.

Gletscherforscherin Fischer sagt, sie empfinde keine große Wehmut, dass das Forschungsobjekt Jamtalgletscher wegschmilzt. Sie könne nur das Beste daraus machen und der Öffentlichkeit die Dynamiken des Klimawandels erklären. "Ich werde noch erleben, dass dort, wo vor ein paar Jahren Eis war, Bäume wachsen werden", übt sie sich in Gelassenheit. "Das Tal wird grün sein, und ich werde mir zwischen zwei jungen Lärchen eine Hängematte aufspannen." (Lukas Kapeller, 13.8.2022)