Wie Müll beseitigt wird? Dieser Frage geht der österreichische Regisseur Nikolas Geyrhalter in seinem neuen Film "Matter out of Place" nach.

Geyrhalterfilm

Locarno ist eines der ältesten Filmfestivals in Europa – neben Venedig, Cannes und Berlin hat es jedoch den Status als Underdog. Gerade mit Venedig, das einen Monat später stattfindet, dürfte es sich Jahr für Jahr um Filme streiten. Nun setzt Venedig seit ein paar Jahren verstärkt auf das US-Kino, was es wiederum für Locarno leichter macht, die eigene Nische zu definieren: In den drei Wettbewerben, dem internationalen, dem Nachwuchs- und dem Kurzfilmwettbewerb, wird Film vorwiegend als künstlerisches, nicht als erzählendes Medium betrachtet. Regulär im Kino sieht man solche Filme kaum, mit dem neuen Festivaldirektor Giona A. Nazzaro könnte sich das jedoch ändern. Sein Wettbewerb enthält Angebote, die auch für ein größeres Programmkinopublikum attraktiv sind.

Dominant tritt Frankreich auf – sieben der siebzehn Filme des Concorso internazionale haben es als (Ko-)Produktionsland gelistet, doch nur zwei sind von französischen Regisseurinnen: Stella est amoureuse von Sylvie Verheyde erzählt eine autobiografisch angehauchte Liebesgeschichte aus den 1980ern, verlässt sich dann aber zu sehr auf derzeit populäre französische Narrative: ein bisschen Annie Ernaux’scher Klassenkonflikt, ein schönes sprachloses Mädchen und ein Objekt der Begierde. Bowling Saturne von Patricia Mazuy ist ein von den Dardenne-Brüdern produziertes Drama über den sozialen Abstieg in die Spirale der Gewalt – thematisch nichts Neues, doch atmosphärisch dicht inszeniert.

Strenge Erziehung

Thrilleranklänge besitzt auch Ruth Maders österreichischer Beitrag Serviam – Ich will dienen. Schauplatz ist eine katholische Eliteschule in den 1980er-Jahren irgendwo bei Wien. Gedreht wurde in derselben Schule, die die Regisseurin besuchte. Das Schulgebäude steht im Zentrum der strengen Inszenierung, während die drei Hauptfiguren sich auf verschiedene Weisen an der Internatsleiterin (Maria Dragus) abarbeiten. Maders Mädcheninternat ist ein Ort des Traumas, eine triste Zurichtungsanstalt, in der Nächstenliebe gepredigt wird, sich dann aber – ebenso wie die Spannung – in langen, dunklen Gängen verliert.

Nikolas Geyrhalters Matter out of Place setzt ebenfalls auf das unbewegte Bild: In der peniblen Observation der Müllbeseitigung unterschiedlicher Länder findet Bewegung nur vor der Kamera statt. Immer wieder fängt seine Linse schöne, skurrile und erschreckende Szenen ein und zeigt: Hinter jedem Idyll stecken Menschen, die aus unterschiedlicher Motivation heraus Müll sammeln, sortieren, beseitigen. Ganz verschwindet die Matter out of Place – die Materie, die vorher nicht da war – jedoch nie. Beide Beiträge aus Österreich erwecken den Eindruck eines Kinos, das erstarrt ist. Zu sehr wird auf geometrische Formen und statische Einstellungen gesetzt. Dass Österreich auch anders kann, zeigt im Kurzfilmwettbewerb das Kollektiv Total Refusal, das mit seinen aktivistischen Machinimas – Filmen aus PC-Games – neue Ästhetiken erprobt.

Anti-Propagandafilm als Favorit

Auch der Altmeister Alexander Sokurow beweist, dass das Interesse an neuen, ungewöhnlichen Ästhetiken nicht an das Alter gebunden ist. In Skazka (Fairytale) treffen Hitler, Mussolini, Churchill und Stalin digital aus Archivaufnahmen reanimiert in einem Hieronymus-Bosch-Höllenszenario aufeinander. Sie brabbeln herum, kommentieren die Uniformen der anderen, klopfen an Gottes Tor. Das ist großes Kino, bild- und tongewaltig, komisch und ambivalent. Sokurow kann mit seinem Anti-Propaganda-Film, auch wegen seiner tendenziell Putin-kritischen Haltung, als Favorit gelten. Der Ukraine-Konflikt hat sich hingegen kaum in das Festival eingeschrieben. Im Nachwuchswettbewerb ist mit Yak Tam Katia? ein einziger ukrainischer Film zu sehen, außer Konkurrenz läuft Prologos, der letzte Film des von russischen Soldaten ermordeten Regisseurs Mantas Kvedaravičius.

Wie sich die Jury entscheidet, zeigt sich am Wochenende. Neben Skazka dürften noch zwei engagierte Filme aus Südamerika im Rennen sein: Der brasilianische Regra 34 traut sich, zeitgleich von SM-Fetisch und häuslicher Gewalt zu erzählen; das Regiedebüt von Valentina Maurel aus Costa Rica, Tengo sueños eléctricos, lotet die Beziehung eines jungen Mädchens zu ihrem cholerischen Vater aus.

Komische Momente

Für komische Momente sorgt Italien mit Gigi la Legge, in dessen Zentrum ein unangepasster Landpolizist steht, der tagein, tagaus Patrouille durch seinen Ort fährt. Deutschland ist ebenfalls mit zwei Filmen im Rennen, beide sind analog gedreht. Bei Helena Wittmanns Human Flowers of the Flesh bekommt man jedoch bald den Eindruck, sich auf eine Fotovernissage verlaufen zu haben. Ann Orens Piaffe nimmt hingegen den Sound des Kinos unter die Lupe und setzt so einen gekonnten Kontrapunkt zum vorherrschenden Fetisch mit dem statischen Bild, dem so viele Filme im Wettbewerb erlegen sind. (Valerie Dirk aus Locarno, 12.8.2022)