Jean-Jacques Sempé in Rueil-Malmaison bei Paris, November 2019.

Foto: APA/AFP/MARTIN BUREAU

Paris – Über 40 Bildbände und eine Geschichte, die fast jeder kennt: "Der kleine Nick". Jean-Jacques Sempé hat die Figur zusammen mit dem 1977 verstorbenen René Goscinny erfunden. Die verrückten Einfälle des Dreikäsehochs haben sich millionenfach verkauft und wurden in über 30 Sprachen übersetzt. Sempé gehört zu den bedeutendsten Zeichnern und Karikaturisten Frankreichs. Am Donnerstag ist der als schüchtern und bescheiden geltende Künstler gestorben.

Seit 60 Jahren versuche er humorvolle Zeichnungen zu entwerfen. Leider habe er das Ziel noch nicht erreicht, sagte der Künstler anlässlich seines kommende Woche bevorstehenden 90. Geburtstags in einem Interview. Deshalb erzählte und illustrierte der Franzose, mit dessen Werken mehrere Generationen groß geworden sind, unermüdlich weiter.

Erst Ende 2020 hat Sempé mit "Garder le cap" (Kurs halten) einen neuen Bildband herausgebracht. Darin gab er sich wieder als unvergleichlicher Beobachter unserer Zeit. Den Titel habe er deshalb gewählt, weil jeder ein Ziel haben sollte – gleich ob Bäcker oder Forscher, erzählte er in dem Gespräch mit der Regionalzeitung "L'Alsace". Eines ist klar: Er wollte seit 60 Jahren die Menschen mit Geschichten über unsere großen und kleinen Fehler zum Lachen und Schmunzeln bringen.

Unverkennbarer Stil

Dabei ist Sempés Stil unverkennbar. Fröhlich oder melancholisch, farbig oder schwarz-weiß, mit oder ohne Bildunterschrift: Seine Illustrationen machen mit viel Poesie den Alltag sichtbar. Unter seinem sanft spöttischen Blick entlarven bürgerliche Paare, hochrangige Manager und kleine Leute ihre existenziellen Fragen, die in der Banalität des Alltags wurzeln. Dabei gehören kleine Menschen in überdimensionierten Straßenschluchten zu seinen Lieblingsmotiven. So wirken sie oft verloren.

Im Umgang mit seinen Protagonisten ist Sempé stets nachsichtig. Er zeichnet sie mit liebevoll-ironischem Strich. Sie in lächerlichen Situationen zu zeigen, mache ihm keinen Spaß, wie er einst meinte. Als "barmherziger Beobachter menschlicher Komödien" wird er deshalb auch bezeichnet.

Sempé wurde 1932 in Pessac bei Bordeaux geboren. Seine Kindheit war eher bedrückend: ständige Geldprobleme und eine Mutter, die sich mit seinem Stiefvater stritt, der Lebensmittelhändler war und oft betrunken nach Hause kam. Die Schulzeit war ebenso trostlos, wegen Ungezogenheit flog er von der Schule. Kein Wunder, dass er früh wegwollte: Noch als Jugendlicher meldete er sich zum Militärdienst.

Mit 18 Jahren ging er nach Paris, wo er sich mehr schlecht als recht als Weinauslieferer mit dem Fahrrad oder als Bürojunge durchschlug, bevor er 1950 das Zeichnen zum Beruf machte – zunächst als Karikaturist für "Paris Match" und die US-Zeitschrift "The New Yorker". Später versorgte er auch fast ein Jahrzehnt lang den "L'Express" mit seiner hintersinnigen Gesellschaftskritik.

"New Yorker"-Titelseiten von Sempé.

Im Jahr 1954 lernte er dann René Goscinny kennen. Die Begegnung mit dem 1977 verstorbenen Comicautor und Miterfinder von Asterix war entscheidend. Zusammen erschufen sie die erfolgreiche Kinderbuchserie "Der kleine Nick".

"Der kleine Nick"

Der Handlungsbogen der ersten Ausgabe ist bündig und liefert doch ein perfektes Bild vergeblicher Mühen: Ein Schulfotograf versucht, die Kinder einer Klasse in einem perfekten Moment festzuhalten. Aber wer steht schon gerne still? "Eine Erinnerung fürs Leben", heißt die Geschichte und beinhaltete schon den ganzen profan-poetischen Zauber von "Der kleine Nick." Die zwischen 1959 und 1964 erschienene Kinderbuchserie von Réne Goscinny und Jean-Jacques Sempé – nachträglich kamen noch ein paar verschollene dazu – wurde zum in mehr als dreißig Sprachen übersetzten Welterfolg.

Von Sempé kamen die Zeichnungen, die herzigen, in markanten Strichen entworfenen Maxerl wurden zu seiner Signatur. Erstmals erschienen sie in der Zeitung "Sud Ouest Dimanche in Bordeaux," zu deren Ausläufern auch seine Heimatstadt Pessac gehört. Die Serie sei "ein Weg gewesen, das Elend, das ich in meiner Kindheit erlebt habe, wieder aufleben zu lassen und gleichzeitig sicherzustellen, dass alles gut ausgeht", meinte Sempé später einmal. Das beschreibt bereits gut die Doppelbödigkeit, die viele seiner Werke kennzeichnet.

Eine Besonderheit Sempés war es, die Texte seiner Cartoons selbst zu schreiben. Nur den allerwenigsten wie dem Literaturnobelpreisträger Patrick Modiano war es vergönnt, ihn als Illustrator zu gewinnen. Umgekehrt fühlten sich französische Geistesgrößen wie Roland Barthes oder Georges Perec von seiner philosophischen Lakonie inspiriert. 1978 fertigte er sein erstes Cover für den New Yorker an, der ihn endgültig zum Star machte.

Musik war Sempés große Leidenschaft. "Ich glaube, ohne sie wäre ich verrückt geworden, viel verrückter, als ich bin", sagte er dem Sender BFMTV. Zu seinen Lieblingsmusikern gehörte neben dem französischen Komponisten Claude Debussy der US-Jazzmusiker Duke Ellington, den er gern zitierte. So soll der Pianist gesagt haben, dass Jazz für die klassische Musik das sei, was die humoristische Zeichnung für die Malerei ist. Sempés Schlussfolgerung: Sie sei keine große Sache. Sie sei die Kunst zu suggerieren – wie Jazz. (APA, red, 11.8.2022)