Peter G. Kirchschläger ist Leiter des Sozialethik-Instituts an der Universität Luzern.
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Soll ich mein Kind mit einer symptomlosen Corona-Infektion in den Kindergarten bringen oder nicht? Nehme ich in Kauf, andere Kinder und die Kindergartenmitarbeiterinnen zu gefährden, oder bleibe ich mit dem Kind zu Hause und bringe dadurch meinen Arbeitsplatz in Gefahr? Auch die öffentlichen Debatten rund um vorangegangene Corona-Maßnahmen haben eine ethische Dimension: Was wird höher gewichtet, der Schutz der Gesellschaft oder die wirtschaftliche Beständigkeit? "Heute wird die Realität oft als sehr komplex dargestellt, aber auch die Ethik an sich ist es", sagt Peter G. Kirchschläger, Leiter des Instituts für Sozialethik an der Universität Luzern. Nicht nur im Gesundheitswesen und in der Forschung, sondern auch in Unternehmen, privaten und öffentlichen Institutionen spielen ethische Fragen eine zunehmend wichtige Rolle.

Aber wie kann man Ethik lernen? "Jeder Mensch besitzt eine Moralfähigkeit, also die Möglichkeit, zwischen gut und schlecht zu entscheiden, ethische Normen für sich zu erkennen, sie als verbindlich zu verstehen und dann ins Handeln zu bringen. Wir Menschen sind dazu fähig, machen es aber nicht immer", ergänzt Kirchschläger. Von Kindesbeinen an orientieren wir uns an moralischen Werten und Normen. Somit verfüge auch jeder Mensch über moralische, ethische Kompetenzen, die aber nicht systematisch erfasst sind.

Ethik und Moral

Der Unterschied zwischen Ethik und Moral – zwei Begriffe, die häufig synonym verwendet werden – liegt für ihn in der Anwendung. Während hinter dem Begriff Moral die Vorstellungen zu verstehen sind, was individuell oder auch gesellschaftlich als richtig oder falsch, als gut oder schlecht eingeordnet wird, ist Ethik die Wissenschaftsdisziplin, die sich mit der Moral beschäftigt und rational begründet, warum etwas richtig oder etwas falsch ist. Aber gesellschaftliche Normen gelten nur so lange, solange sie auch begründbar sind. Als Beispiel nennt er die gesellschaftlich akzeptierte Norm der 1960er-Jahre, dass sich Frauen um Haushalt und Kindererziehung kümmern müssen. Erst das ethische Hinterfragen dieser Norm habe gezeigt, dass sie rational nicht begründbar ist. Sie stehe im Widerspruch zum allgemeingültigen Gleichheitsprinzip der Menschenrechte.

Jeder Mensch verfügt über einen inneren Wertekompass und handelt danach. Diese Normen und Werte zu hinterfragen zeichnet die Ethik aus.
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Und auch wenn jeder über einen ethischen Wertekompass verfüge und ethische Grundfragen in allen Wissenschaftsdisziplinen – von der Medizin bis zur künstlichen Intelligenz – zu stellen sind, fehle es an einer systematischen Herangehensweise zu diesem Thema. Im Herbst startet an der Uni Luzern das Masterstudium Ethik, das diesem Anspruch gerecht werden möchte. Es steht Bachelorabsolventen aller Fachrichtungen offen. "Je diverser die Studienrichtungen der Bachelorabsolventen sind, desto spannender wird das Masterstudium." Im Studium sollen die Werte jedes Einzelnen, die Werte, die sich die Gesellschaft setzt, systematisch reflektiert werden – mit dem Ziel, diese auch kritisch zu hinterfragen, ob sie auch ethisch begründbar sind. "Dafür braucht es ethische Methodenkompetenz, aber auch das passende Instrumentarium. Dadurch könne, ist Kirchschläger überzeugt, ein gesellschaftlicher Mehrwert generiert werden.

Allgegenwärtig

Gerade durch die aktuellen Herausforderungen seien ethische Fragen allgegenwärtig. "Mit zunehmender Komplexität der Realität stellen sich auch ethische Fragen mit einer höheren Dringlichkeit." Leider sei auch erkennbar, dass es noch großen Nachholbedarf bei den notwendigen Kompetenzen an den entscheidenden Stellen gebe. "Die Corona-Pandemie, aber auch der Ukraine-Krieg haben gezeigt, dass bei vielen ethischen Fragen durchaus Überforderung bei den Entscheidungsträgern bemerkbar war." Dieses verkürzte Verständnis von Ethik führe dann dazu, dass Entscheidungen eher aus dem Bauch heraus getroffen werden und Ethik nicht in ihrer Vielfalt verstanden werde.

Ethik an sich bestehe aus unterschiedlichen Theorien und sei durch Pluralität gekennzeichnet. Als Beispiel nennt Kirchschläger den Utilitarismus, der eine Form der zweckorientierten Ethik darstellt und in seinem Kern auch die Grenze der Menschenwürde überschreiten kann, vorausgesetzt, diese Verletzung lässt sich rational begründen. Aber auch theologische Ethik oder philosophische Ethik sind Teilbereiche, die von unterschiedlichen Grundannahmen ausgehen und hinterfragt werden können. "Aristoteles hat gesagt: Immer wenn wir Regeln setzen, müssen wir uns dessen bewusst sein, dass sie lückenhaft sind", ergänzt Kirchschläger und nennt das die regelüberragende Einzigartigkeit des Konkreten. Ein universelles Normensystem sieht Kirchschläger in den Menschenrechten, die erst Pluralität ermöglichen.

"In der aktuellen Situation bin ich überzeugt davon, dass es einen positiven Unterschied machen kann, wenn Menschen in verschiedensten Berufen eine ethische Grundkompetenz einbringen können." (Gudrun Ostermann, 19.8.2022)