Am 12. Mai hisste Antonina Samoilova die ukrainische Flagge auf dem höchsten Punkt der Erde, dem Mount Everest. Im Gepäck hatte sie noch zwei Reservefahnen – um auf Nummer sicher zu gehen.

Foto: AFP / 14 Peaks Expedition

An dem Tag, als der Krieg ausbrach, war Antonina Samoilova gerade in einem Funkloch. Ohne Empfang stieg sie am 24. Februar auf den Gipfel des Pico de Orizaba. Mit 5663 Metern ist der Vulkan nicht wahnsinnig hoch, im Vergleich zu den Achttausendern im Himalaja. Aber immerhin ist es der höchste Berg Mexikos. Die 33-jährige Ukrainerin hatte den Trip schon lange geplant. Nach Covid wollte sie wieder einmal etwas erleben. Erst wollte sie also auf den Orizaba, dann sollte es weiter nach Tansania gehen, zum Kilimandscharo. Die Tickets waren alle gebucht.

Als sie zwei Tage nach dem Gipfelsturm wieder Nachrichten auf ihrem Handy empfing, erstarrte sie. Ihre Schwester hatte ihr geschrieben: "Tonia, wir sind in einem Luftschutzbunker, und Kiew wird bombardiert."

Ende Mai sitzt Samoilova in einem Luxushotel in Katmandu, der Hauptstadt Nepals, ihre Haare frisch gewaschen, ihr Gesicht frisch und erholt. Wüsste man es nicht besser, würde man nicht glauben, dass sie noch vor wenigen Tagen auf dem Mount Everest mit einer ukrainischen Flagge posierte. Im Sommer sollte sie noch eine ordentliche Portion nachlegen: Am 28. Juli stand sie auf dem Gipfel des K2. Der Achttausender gilt als einer der schwierigsten Berge überhaupt. Auch dort hatte sie eine blau-gelbe Fahne mit: "Ruhm der Ukraine, Ruhm den Helden", stand darauf geschrieben.

Wenige Tage nach dem Everest im Mai davor ist sie hin- und hergerissen zwischen der Euphorie über den Gipfelerfolg und dem Ernst der Umstände. Wenn sich Samoilova an die letzten Tage im Februar erinnert, verschwindet ihr Lächeln.

Plötzliche neue Realität

Da war die Sorge um ihre Schwester, die ein kleines Kind hat. Und um ihren Bruder, der sich gleich in der ersten Woche des Krieges der Armee angeschlossen hat. Immer noch mischt sich Ungläubigkeit in ihre Stimme, wenn sie von der plötzlich neu entstandenen Realität erzählt. Bomben auf Kiew? Die Menschen in Tscherkassy, ihrer Heimatstadt, in Luftschutzkellern? Die Vorstellung war absurd.

Samoilova bei ihrer Ankunft in Kathmandu nach der erfolgreichen Everest-Besteigung.
Foto: AFP/BIKASH KARKI

Da war aber auch die Frage, was sie selbst nun machen sollte. Zurück nach Kiew, wo sie ein Restaurant betreibt und als Innenarchitektin arbeitet, konnte sie nicht. Übrig blieb ein Gefühl von Hilflosigkeit: Etwas Schlimmes passiert, und sie konnte nichts machen. Über Tansania gelangte die Hobby-Bergsteigerin schließlich nach Nepal, dem Mekka des Höhenbergsteigens.

In Katmandu traf sie zufällig den Manager einer der größten Everest-Tour-Anbieter. Der schlug ihr vor, den höchsten Berg der Welt zu besteigen. Erst zögerte sie, doch dann kam ihr ein Gedanke: Wenn man eine Botschaft überbringen will, dann braucht es etwas Massives, etwas Großes, um gehört zu werden. Mehrere Wochen nach Kriegsbeginn merkte Samoilova, dass die Welt langsam das Interesse an dem Leid in ihrer Heimat verlor. Der Everest sei wie eine riesige Werbefläche, um an die Ukraine zu erinnern.

Samoilova fand einen ukrainischen Sponsor, und auch ihr Vater bekräftigte sie: "Du hast jetzt genau einen Job", sagte er am Telefon zu ihr. "Du musst die ukrainische Flagge auf den Everest bringen."

Persönlicher und repräsentativer Akt

Am höchsten Punkt der Erde die Nationalfahne zu hissen, das ist fast immer ein persönlicher, aber auch repräsentativer Akt – umso mehr in Kriegszeiten. Generell liegen Sport und Politik oft nah beieinander. Im Sport gab es nach dem Angriff auf die Ukraine bereits viele Ausschlüsse von russischen Teams.

Auch auf dem Everest gab es solche Bemühungen. Der ukrainische Botschafter für Nepal forderte eine Sperre für russische Bergsteiger 2022. Jedes Team, das auf den Everest will, muss von der Regierung Erlaubnis einholen und umgerechnet rund 10.000 Euro zahlen. Prominente unterstützten den Aufruf, doch Nepal lehnte ab. Am Ende versuchten sich heuer laut nepalesischem Tourismusministerium 17 Russen und Russinnen an dem Berg, deutlich weniger als sonst. Anbieter mussten im Vorfeld rund 30 Prozent der Expeditionen stornieren, berichtete die Himalayan Times.

Zu müde für Politik

Samoilova war die Einzige aus der Ukraine, die es versuchte. Zwei Wochen verbrachte sie im Basislager auf 5.300 Meter Höhe. In der riesigen Zeltstadt auf dem Khumbu-Gletscher leben jede Saison über tausend Menschen. Die Höhe mache lethargisch und energielos. "Essen, Klo, Schlafen. Mehr geht nicht", erklärt Samoilova. Schon im "normalen" Umfeld gehe sie politischen Diskussionen aus dem Weg. Umso mehr auf dem Berg, wo Körper und Geist nur auf den Aufstieg fokussiert sind. Die einzigen Themen: Wann ist ein Wetterfenster? Wann ist "summit push"?

Sowohl vor als auch nach ihrer Everest-Besteigung gab es großes Medieninteresse.
Foto: AFP/BIKASH KARKI

Just am 9. Mai, dem russischen Tag des Sieges, ging es für Samoilova hoch zum Gipfel. Drei Tage später, um halb sechs in der Früh, machte sie schließlich die letzten Schritte Richtung der 8848er-Marke. Im ersten Moment konnte sie es nicht glauben. Ein absurder Gedanke, dass sie, Samoilova, gerade auf dem Everest stehen würde. Der zweite Gedanke galt der Fahne in ihrer Tasche oder eigentlich: den Fahnen. Zur Sicherheit hatte sie drei Stück dabei, falls eine im starken Wind wegflattern sollte. Den Spruch "Stand with Ukraine" hielt sie in die Kamera.

In Kriegszeiten müsse man sich gegenseitig aufbauen, sagt Samoilova. Kritikern begegnet sie mit Gleichmut. Man könne alles schlechtreden. Doch sie möchte zeigen, dass alles möglich ist, auch das scheinbar Unmögliche: "Ich habe meinen Job erledigt." (Anna Sawerthal, 17.8.2022)