Wie viel Prozent braucht es, um etwas als gut genug zu empfinden?

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Amazon, Google Maps, Mjam, Metacritic oder die Internet Movie Data Base (IMDB) – zur ersten Orientierung nutzen wir mittlerweile die lustigen Sternebewertungen, die auf einen Blick klarmachen: hopp oder dropp. Aber sagen 349 Meinungen wirklich, ob das Produkt für den eigenen Geschmack geeignet oder ungeeignet ist? Ich glaube nicht.

Hunger

Man kennt das. Man ist in einer neuen Stadt oder will am Wochenende einfach von zu Hause Essen bestellen. Der erste Reflex lotst einen auf eine Navigations- oder direkt in eine Bestell-App, und schon geht die Suche nach den bestbewerteten Lokalen los. 4,5 von fünf Sternen – das klingt doch gut. Dass es sich dabei um eine Dönerbude handelt, die ein sehr treues, aber vielleicht auch nicht das anspruchsvollste Publikum hat, fließt in die Abschlusswertung nur bedingt ein. Ein Pub bei mir ums Eck ist tatsächlich okay, mehr aber auch nicht. Google Maps zitiert 992 Menschen, die im Schnitt 4,4 Sterne geben. Eine Fünf-Sterne-Bewertung von vor zwei Monaten lässt wissen: "Sehr gutes und reichliches Essen zu einem moderaten Preis. Wir haben bei der Krone-Auktion einen Gutschein ersteigert mit Platte und Whisky-Verkostung." Kann ich eine Bewertung nach einer Whisky-Verkostung wirklich ernst nehmen?

Auch Hotelbewertungen haben ihre Tücken. Sieht man sich öfter mal auf Plattformen wie Booking.com um, dann wird schnell klar, dass Menschen unterschiedlich ticken. Ein durchschnittliches Hotel einer populären Kette, immerhin mit einer 8,4-Bewertung ausgezeichnet, wird meist für die dortige Sauberkeit gelobt. Dennoch finden sich zahlreiche Stimmen, die sich über "Spinnennetze" in so mancher Ecke oder Risse in der Decke beschweren und deshalb maximal zwei Sterne an die virtuelle Türe heften. Man selbst bleibt in solchen Fällen oft ratlos zurück – wem glaubt man jetzt, speziell wenn man selbst bei solchen Dingen heikel ist?

Auch ich habe mich immer wieder zu so manchem Kauf hinreißen lassen, weil die dazu passenden Wertungen teils überschwänglich waren. Das Buch "Der Herr der Augenringe" sei "witzig und unterhaltsam", ein "Parodie-Klassiker", lese ich beim größten Buchhändler der Welt. Nach zehn Seiten musste ich das Werk aus den Händen fallen lassen. Nicht mein Humor, leider. Völlig sinnlos werden Nutzerbewertungen bei Plattformen wie Metacritic, wo Videospiele, Musik oder auch Filme bewertet werden können. Hier herrschen oft Zorn und Verbitterung statt klarem Denken. Das meiner Meinung nach hervorragende Spiel "The Last of Us: Part 2" bekommt einen User-Score von 5,7, weil sich zahlreiche Spieler über "erzwungene LGBTQ-Ideale" aufregen oder das Ableben so manchen Charakters nicht verkraften. Eine sinnvolle Diskussion ist nicht mehr möglich – zahlreiche Nuller- und Einserwertungen die Konsequenz.

Alternativen

Die Wertungen einfach wegzulassen würde natürlich auch eine Lücke erzeugen. Vor allem für jene Menschen, die offenbar zu allem und jedem etwas zu schreiben haben. Kommentare wie "Saugut" oder "Hervorragend" als Kurzmeldungen unter ein Hotel oder ein Lokal zu schreiben ist gefühlt ein stummer Schrei nach Aufmerksamkeit und könnte auch gleich ganz weggelassen werden. Wirklich helfen können solche Meldungen nämlich nicht. Nach den vielen, zum Teil auch nachgewiesenen Meldungen, dass Firmen sich gute Bewertungen kaufen und Mitbewerber mit schlechten Rezensionen torpedieren würden, ist man hin- und hergerissen, was man überhaupt noch glauben soll.

Aber woran würde man sich dann anhalten, wenn auf einmal nur noch Produkte zum Kauf angeboten werden, die noch kein Nutzer vor uns gekauft oder getestet hat? Man müsste wieder Fachmagazine lesen oder Profi-Youtubern glauben, wenn sie ihre Meinung der Dinge schildern. Aber auch da kann es natürlich Meinungsverschiedenheiten geben. Etwa, wenn Herr Profi glaubt, den neuen Disney-Film "Prey" einfach verreißen zu können. Der hat offenbar schon zu viel gesehen, um sich noch in den alternden Predator-Fan hineinversetzen zu können, richtig? Also sich auf Einzelpersonen zu verlassen ist offenbar auch keine Dauerlösung.

Strategie finden

"Die Suppe war nur noch ganz leicht warm", "Der Kinderwagen riecht total nach Plastik" oder "Das Bett war ein Horror". Allein sich durch die Kommentare so mancher Plattform zu lesen kann über Stunden unterhalten. Irgendwie hat man sich ja daran gewöhnt, sich eine Meinung aus vielen anderen Meinungen zu bilden, und so hat wohl jeder seine Strategie gefunden, mit dem Überangebot umzugehen. Viele lesen nur noch die schlechten Wertungen, um auf alles vorbereitet zu sein – etwa Finger in der Suppe –, oder lesen nur die Drei-Sterne-Bewertungen, weil diese Pros und Kontras aufzählen. Weil nichts ganz einfach nur gut oder schlecht sein – so viel haben uns die Online-Bewertungen in den letzten Jahren beigebracht. (Alexander Amon, 17.8.2022)