Wissenschaft, Gesundheitswesen und Pharmaindustrie leisten Enormes, um die Heilungschancen von Krebs, Autoimmunerkrankungen oder seltenen Krankheiten zu verbessern. Dabei wird aber die Perspektive der Patientinnen und Patienten nicht immer ausreichend berücksichtigt.

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Mittagspausenzeit war, und Martina Hagspiel ging zum Arzt – keine große Sache, dachte sie. Doch es dauerte eineinhalb Jahre, bis die damals 32-Jährige wieder in ihr Leben zurückkehrte. Was war passiert? Brustkrebs. Das war passiert.

Rund 42.000 Menschen in Österreich werden jedes Jahr mit der Diagnose Krebs konfrontiert, einer schweren, potenziell unheilbaren oder sogar tödlichen Krankheit. Diese Diagnose stellt das Leben, wie man es kennt, völlig auf den Kopf. Und man ist auf einmal mit Fragen und Therapie-Entscheidungen konfrontiert, die man im Grunde nicht zu treffen in der Lage ist.

Man kann sich diesem Schicksal hingeben und die Expertinnen und Experten ihren Job machen lassen – oder man kann selbst aktiv mitarbeiten, mündige Patientin sein. Das ist der Weg, den Hagspiel nach ihrer Diagnose gegangen ist. Und der mittlerweile, zwölf Jahre später, zu ihrem Beruf geworden ist.

Sie ist Patient-Advocate, betreibt die Plattform "Kurvenkratzer", eine digitale Erfahrungsplattform zum Lebensumstand Krebs. Und sie will mehr. Ihr erklärtes Ziel: ein etabliertes System der Patient-Advocacy, um anderen, die mit ähnlich lebensverändernder Diagnose konfrontiert sind – Krebs, Autoimmunerkrankung oder seltene Krankheit – eine schlagkräftige Interessenvertretung aus den eigenen Reihen zu bieten.

Der mündige Patient

Doch was ist Patient-Advocacy überhaupt? Das zu erklären ist gar nicht so einfach. Eine einheitliche, internationale Definition davon gibt es nicht. Es beschreibt die aktive Interessenvertretung von Patientengruppen in der Öffentlichkeit, in gesundheitspolitischen und medizinischen Gremien sowie gegenüber Forschung, Krankenkassen und Pharmaindustrie.

So können die qualifizierten Stimmen der Betroffenen für mehr Transparenz und Patientenorientierung sowie Zugang zu Forschung und Entwicklung sorgen. Wesentliches Element der Patient-Advocates ist das Praxiswissen durch die persönliche Betroffenheit, als Patientin oder Patient, als zugehörige oder als behandelnde Person.

Die Zugehörigen-Perspektive hat Claas Röhl. Als Vater einer Tochter mit Neurofibromatose, einer seltenen Erkrankung, bei der es häufig zu Tumoren kommt, wurde er aus der Not heraus Patient-Advocate: "Als meine Tochter Tumore an den Sehnerven entwickelte und 18 Monate lang Chemotherapie machen musste, wurde mir bewusst, wie wenig über diese Erkrankung eigentlich bekannt ist und dass es fast keine unterstützenden Angebote für betroffene Familien gibt. Das wollte ich ändern."

Schon bald war klar – das geht sich neben dem Job nicht aus. Röhl kündigte, machte eine Fundraising-Ausbildung und gründete 2013 einen Verein, der eine Website launchte, "damit man überhaupt einmal verlässliche Informationen zur Krankheit im Netz findet. Immerhin gibt es in Österreich 3000 bis 4000 Betroffene, damit ist Neurofibromatose beinahe so häufig wie Downsyndrom, und dennoch kennt sie fast keiner."

Spezialisierte Anlaufstelle

Röhl wollte eine spezialisierte Anlaufstelle etablieren – und unterschrieb 2017 mit der Med-Uni Wien einen Kooperationsvertrag. 2018 war genügend Geld da, um das Personal für eine Neurofibromatose-Spezialambulanz zu finanzieren: eine Assistenzarztstelle mit 20 Stunden, eine Psychologin, eine Sozialarbeiterin. An zwei Tagen pro Woche hat die Ambulanz geöffnet, der Zuspruch ist rege – auch aus dem Ausland.

"Patient-Advocacy, wie ich sie verstehe, bedeutet, die eigene Patientencommunity bestmöglich zu vertreten und mit Stakeholdern in Kontakt zu sein, um wichtige Entscheidungen mittragen zu können. Also haben wir ein Netzwerk aufgebaut, in dem wir mit Unikliniken Leitlinien für die Erkrankung entwickeln. Und das erste spezifische Rehaprogramm wurde etabliert."

Das will Hagspiel auch für Krebsbetroffene. Sie betont: "Wir müssen auf einer höheren Ebene in die Entscheidungsfindung eingebunden sein. Wir fordern mehr Transparenz und den Zugang in gesundheitspolitische Runden. Qualifizierte Patienten- und Patientinnenstimmen sowie -organisationen sind ein ebenso wichtiger Systemerhalter wie viele andere Stakeholder im Gesundheitssystem. Deshalb brauchen auch wir eine Stimme und ein Stimmrecht."

Fehlende Basisfinanzierung

Das gelingt in manchen Ländern schon recht gut. In Großbritannien etwa hat die Einbindung Betroffener eine lange Tradition. Auch in den Niederlanden ist diese Teilhabe gut etabliert. In Österreich dagegen ist Patient-Advocacy vielen noch gar kein Begriff. Und es fehlt auch an Basisfinanzierung durch öffentliche Stellen. Selbst etablierte Patientenorganisationen, die Betroffene beraten und finanziell unterstützen, leben größtenteils von Spenden und werden von der Pharmaindustrie gesponsert.

"Ich habe das Gefühl, Patient-Advocacy ist derzeit an einem ähnlichen Punkt wie die Frauenbewegung in den 1960er-Jahren", meint Hagspiel. "Ich stoße immer wieder auf blankes Unverständnis, wenn ich etwa fordere, dass auf einem Kongresspodium, wo über Krankheiten und deren Behandlung diskutiert wird, auch informierte Betroffene sitzen müssen. Und zwar nicht, um Erfahrungsberichte über die eigene Erkrankung abzugeben, sondern um gleichberechtigt mitzudiskutieren." Gut, dass Martina Hagspiel und Claas Röhl nicht müde werden, die Stimme der Betroffenen hörbar zu machen. (Pia Kruckenhauser, CURE, 24.8.2022)