Noch ist es ein reines Gedankenspiel: Könnte es passieren, dass eine künstliche Intelligenz (KI) je einen Nobelpreis für Medizin erhält? Die britische Zeitschrift Economist dachte sich ein solches Szenario für das Jahr 2036 aus: Einer fiktiven Software namens Yulya gelingt ein entscheidender Durchbruch im Kampf gegen Antibiotikaresistenz. Ihre ebenso fiktive Entdeckung rettet in 18 Monaten vier Millionen Menschen das Leben – weshalb das entscheidende Gremium in Stockholm nicht umhinkommt, dem Algorithmus den wichtigsten Wissenschaftspreis der Welt zuzuerkennen.

Die Wissenschaftsforscherin Helga Nowotny, die kürzlich ein Buch über die Chancen und Risiken von KI veröffentlichte (In AI We Trust, 2021), hält ein solches Szenario für unwahrscheinlich, "jedenfalls solange es ein Nobelpreiskomitee in Stockholm gibt, das aus Menschen besteht". Für Demis Hassabis hingegen, den vermutlich einflussreichsten KI-Forscher der vergangenen Jahre, wäre ein Nobelpreis für einen selbstlernenden Algorithmus der ultimative Beweis dafür, dass eine künstliche Intelligenz tatsächlich ähnlich kreativ denken kann wie ein Mensch.

Lex Fridman

Mit seiner 2010 gegründeten Firma Deepmind arbeitet der britische Wissenschafter daran, dass so etwas in nicht allzu ferner Zukunft Realität werden könnte. Und angesichts dessen, was die mittlerweile über 1000 Forscher und Technikerinnen der KI-Schmiede in den vergangenen zwölf Jahren erreicht haben, erscheint dieses Science-Fiction-Szenario nicht mehr ganz ausgeschlossen. So präsentierte Hassabis erst Ende Juli einen Durchbruch für die biomedizinische Forschung, der dem Deepmind-Motto voll und ganz entspricht. Dieses lautet nämlich: die Frage der "Intelligenz lösen, der Wissenschaft helfen, zum Wohle der Menschheit".

Überzogene Hoffnungen zu Beginn

Doch alles der Reihe nach. Die Anfangsphase der KI-Forschung in den 1950er-Jahren war von großem Optimismus geprägt. Experten gingen davon aus, dass schon in den 1960er-Jahren ein Computer Schachweltmeister werden und einen wichtigen mathematischen Satz entdecken und beweisen würde. Diese Prognosen trafen lange nicht ein. Erst 1997, also vor genau 25 Jahren, gelang es dem von IBM entwickelten Schachcomputer Deep Blue, den damals besten Schachspieler der Welt zu schlagen.

Der große Boom der künstlichen Intelligenz hat dann aber erst in den 2010er-Jahren begonnen, was zum einen an der erheblich höheren Rechenkapazität der Computer lag, die nun gegeben war. Zum anderen gab es aber auch neue KI-Ansätze wie das sogenannte maschinelle Lernen (englisch: Deep Learning): Während Deep Blue bloß mit Daten von Millionen menschlicher Schachpartien gefüttert wurde, lernen die neuen KI-Programme mittlerweile ganz alleine in permanenten Spielen gegen sich selbst und gelangen so zu übermenschlicher Stärke. Ein Algorithmus wählt also nicht mehr aus einer beliebigen, vorprogrammierten Anzahl an möglichen Spielzügen, sondern entwickelt eine eigene Strategie.

Spielerische Anfänge bei Deepmind

Das weltweit führende KI-Forschungsinstitut Deepmind, das 2010 in London vom Informatiker und Neurowissenschafter Demis Hassabis gegründet wurde, hat mit seinen immer weiter verbesserten Versionen von selbstlernender Software in den vergangenen Jahren Furore gemacht. Nach den ersten Trainings mit einfach Computerspielen schufen die mittlerweile über 1000 Wissenschafterinnen und Techniker bei Deepmind künstliche Intelligenzen, die auch in extrem komplexen und auf Intuition basierenden Spielen wie Go und schließlich in Computerspielen wie Starcraft gegen die besten menschlichen Spieler reüssierten.

Doch das waren, geht es nach den Plänen von Demis Hassabis und seinem Team, quasi nur Aufwärmübungen. Die großen Ziele sind – siehe oben –, das Problem der Intelligenz zu lösen, der Wissenschaft zu helfen und das alles zum Wohle der Menschheit. So ging Deepmind kürzlich auch eine Kooperation mit dem Francis-Crick-Institute in London ein, Europas größter molekularbiologischer Forschungseinrichtung.

Diese Kooperation wurde auch deshalb von beiden Seiten angestrebt, weil Deepmind im Bereich Biomedizin mit dem Projekt Alphafold bereits sehr weit gekommen ist. Und wohl auch durch die Erfolge mit Alphafold ermutigt, gründete Hassabis im November 2021 gemeinsam mit der Google- und Deepmind-Mutter Alphabet Isomorphic Laboratories, eine Firma, die KI zur Entdeckung neuer Wirkstoffe einsetzt.

Die Bedeutung der Proteine

Doch zurück zu Alphafold: Das Problem, das damit gelöst werden sollte, ist das der 3D-Struktur von Proteinen – quasi ein Jahrhundertproblem der Biologie. Diese mikroskopisch kleinen Eiweißstoffe steuern alle lebenswichtigen Prozesse, im menschlichen Körper ebenso wie in allen Organismen dieses Planeten. Kennt man ihre genaue Struktur, lassen sich die Funktionsweisen der Proteine besser verstehen, Krankheiten schneller analysieren, neue Medikamente entwickeln und viele weitere Geheimnisse des Lebens erforschen.

DeepMind

Doch die Herausforderung ist groß: Die Verdrehungen und Faltungen der Proteine sind extrem komplex, weshalb es bisher jahrelang dauerte, auch die Struktur eines einzigen zu entschlüsseln. Denn dafür waren bis vor kurzem umfangreiche Experimente mit Röntgenstrahlen, Mikroskopen und anderen Werkzeugen erforderlich.

Über 200 Millionen 3D-Strukturen

Alphafold wurde von den Forschenden bei Deepmind darauf trainiert, diese 3D-Strukturen allein auf Basis ihrer Aminosäuresequenz vorherzusagen, was bis dahin als Ding der Unmöglichkeit galt. Das Programm wurde 2020 vorgestellt. Ein Jahr später konnte Deepmind die 3D-Strukturen für rund 350.000 Proteine zur Verfügung stellen – inklusive aller Proteine, die vom menschlichen Genom "hergestellt" werden.

Eine der mittlerweile 200 Millionen Proteinstrukturen, die von Alphafold ermittelt wurden. Mit der Struktur der Proteine wird auch klar, wie sich funktionieren.
Illustration: Deepmind

Ende Juli 2022 gab Hassabis bekannt, dass Alphafold die 3D-Strukturen von mehr als 200 Millionen Proteinen ermittelt hat, also von so ziemlich allen Proteinen unseres Planeten. Das Gute daran: Obwohl Deepmind eigentlich eine kommerzielle Firma ist, machte sie sowohl Alphafold wie auch die 3D-Strukturen für alle Forschenden frei zugänglich. Deren Begeisterung ist entsprechend groß.

In den Worten von Eric Topol, Direktor des Scripps Research Translational Institute in Kalifornien: "Alphafold ist ein einzigartiger und bedeutender Fortschritt in der Biowissenschaft, der die Macht der KI demonstriert." Damit könnten jeden Tag mehr biologische Rätsel gelöst werden.

Überwältigender Erfolg

Bereits eine halbe Million Wissenschafterinnen und Wissenschafter nutzt Alphafold oder arbeitet mit den 3D-Modellen. Denn egal, ob es nun um die Entwicklung neuer Medikamente geht, um den Kampf gegen die Plastikverschmutzung oder das Bienensterben: All diese Probleme lassen sich mit Alphafold leichter lösen – auch jenes der Antibiotikaresistenz, an der etwa auch Marcelo Sousa an der Colorado-Universität in Boulder forscht.

DeepMind

Er untersucht, wie resistente Bakterien ihre Oberfläche verändern, um das Eindringen von Antibiotika zu verhindern. Das tut er seit Neuestem mit Alphafold. Die Software half ihm dabei, ein wichtiges Problem besser zu verstehen, das ihn seit zehn Jahren beschäftigte. Vielleicht gibt es dafür ja einmal einen Medizin-Nobelpreis. (Klaus Taschwer, 27.8.2022)