Wo genau steht die Gen-Schere heute, eine Dekade nach ihrer Entdeckung?

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Wenn die komplizierte Bezeichnung eines komplexen molekularbiologischen Verfahrens zum Haushaltsnamen wird, darf von einer vielversprechenden Entwicklung ausgegangen werden. Im Fall der Gen-Schere CRISPR/Cas9, die es aus dem Labor beeindruckend schnell in die Medien schaffte, war gar von einer wissenschaftlichen Revolution die Rede, von enormem medizinischem Potenzial.

Genau zehn Jahre ist es her, dass Emmanuelle Charpentier und Jennifer Doudna diese Technik zur Genom-Editierung der Fachwelt erstmals präsentierten. Sie ermöglicht gezielte Eingriffe in das Erbgut, schneller, genauer und einfacher als alle vorangegangenen Methoden.

Inzwischen wurden die beiden Wissenschafterinnen mit dem Chemienobelpreis ausgezeichnet. Ihre Entdeckung ermögliche neue Krebstherapien und könnte den Traum von der Heilung von Erbkrankheiten wahr werden lassen, urteilte das Nobelpreiskomitee 2020. Doch wo genau steht die Gen-Schere heute, eine Dekade nach ihrer Entdeckung – wurden die großen Hoffnungen, die in das Werkzeug gesetzt worden waren, erfüllt?

"CRISPR zählt zu den großen biomedizinischen Durchbrüchen dieses Jahrhunderts", sagt Christoph Bock, Genomwissenschafter und Krebsforscher am Forschungszentrum für Molekulare Medizin (CeMM) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. "Heute laufen viele fortgeschrittene klinische Studien, die gute Ergebnisse erzielen. Der medizinische Nutzen ist bereits größer, als ich damals erwartet hätte." Bei den aktuellen Studien an Patienten geht es vor allem um die Behandlung seltener genetischer Erkrankungen und Krebstherapien.

Direkt vor Ort reparieren

So gibt es etliche genetische Erkrankungen, bei denen bestimmte Proteine fehlen oder durch einen Gendefekt funktionslos gemacht werden – mit weitreichenden Folgen. Bisher waren die Therapieansätze bei solchen Erkrankungen kompliziert und risikobehaftet: Bei der klassischen Gentherapie wird versucht, das fehlerhafte Gen durch ein intaktes zu ersetzen.

Wenn das gelingt, kann das Protein wieder fehlerfrei produziert werden. Allerdings besteht die Gefahr unbeabsichtigter Veränderungen im Erbgut. Mit frühen Gentherapien Anfang der 2000er-Jahre, vor der Entdeckung von CRISPR/Cas9, wurden bei einigen Patienten versehentlich Gene zerstört, die vor Krebs schützen, und daraus haben sich im Einzelfall auch Leukämien entwickelt.

Therapien mittels der Gen-Schere CRISPR und ihre Weiterentwicklungen zielen darauf ab, die betreffende Mutation direkt vor Ort zu reparieren oder die fehlende Gen-Funktion auf Umwegen zu ersetzen und dabei das Risiko für Nebeneffekte zu minimieren. Bock rechnet damit, dass in den kommenden Jahren die ersten CRISPR-Gentherapien zugelassen werden könnten.

Weit fortgeschritten sind CRISPR-basierte Therapien etwa bei Sichelzellanämie und ß-Thalassämie. Dies sind angeborene Bluterkrankungen, bei denen bedingt durch eine Mutation zu wenig funktionstüchtige rote Blutkörperchen gebildet werden. "Die Zahl der Patienten, die bald von CRISPR-Therapien profitieren werden, ist erst einmal noch recht überschaubar", sagt Bock, "es ist nicht so, dass plötzlich jeder zweite Patient mit CRISPR behandelt werden wird. Aber das Potenzial ist sehr groß."

Krebszellen-Killer

Denn auch im Bereich der Krebstherapie eröffnete die Gen-Schere vielfältige Möglichkeiten. Hier steht derzeit vor allem die sogenannte CAR-T-Zell-Therapie im Fokus. "Dabei werden Immunzellen aus dem Körper entnommen und darauf programmiert, dass sie Krebszellen abtöten. Dann werden sie wieder in den Körper eingebracht", erklärt Bock das Grundprinzip.

Im Gegensatz zu den zuvor erwähnten Gentherapien geht es bei diesem Ansatz nicht darum, fehlende Funktionen wiederherzustellen oder zu ersetzen, sondern eine neue Funktion einzuführen – in diesem Fall das Abtöten von Krebszellen. Auch hier laufen bereits klinische Studien, mit einer Zulassung für einige wenige Krebsarten ist ebenfalls schon bald zu rechnen.

Aber auch wenn das Prinzip von CRISPR/Cas9 therapeutische Anwendungen greifbar macht, gibt es in der Praxis etliche Hürden. Generell hat sich gezeigt, dass es mit der Erstversion der Gen-Schere viel einfacher ist, das Erbgut durchzuschneiden und Gene zu deaktivieren, als gezielte Reparaturen durchzuführen. Dazu kommt, dass es auch mit CRISPR/Cas9 zu Schnitten an unbeabsichtigten Stellen der DNA kommen kann, was eben das Risiko krebsfördernder Mutationen birgt.

Weiterentwicklungen

"Das war die große Angst, die am Anfang bestand, dass sich durch Eingriffe mit CRISPR eventuell andere Veränderungen im Genom ergeben. Das scheint aber, Stand heute, kein allzu großes Problem zu sein", sagt Bock. Dennoch müsse man große Vorsicht walten lassen – einmal durchgeführt, lässt sich eine Gentherapie nicht einfach wieder absetzen.

Auch Autoimmunerkrankungen seien denkbar, weshalb man bei klinischen Studien zunächst stark auf Patienten setzt, für die es keine guten Alternativen gibt und für die das Risiko einer neuen Therapie vertretbar ist, sagt der Wissenschafter.

Aufbauend auf der ursprünglichen Gen-Schere CRISPR/Cas9 sind inzwischen mehrere Weiterentwicklungen gelungen, die ihren Vorgänger mit Blick auf die therapeutische Nutzung in den Schatten stellen. "Mit dem klassischen CRISPR/Cas-System kann man gut Gene ausschalten, aber für die meisten Krankheiten muss man präzise reparieren", sagt Gerald Schwank, der an der Universität Zürich mit CRISPR-Techniken der zweiten Generation arbeitet. "Da stehen wir eher noch am Anfang, aber es gibt auch schon viele Fortschritte."

Neue Werkzeuge

Durch sogenannte Basen- und Prime-Editoren könnte nicht nur das Problem der Off-Target-Effekte weiter verringert werden. Im Gegensatz zu CRISPR/Cas9 lassen sich Gene mit Base- und Prime-Editing auch weitaus präziser bearbeiten, Mutationen einführen und ganze Sequenzen einbauen. "Diese Techniken sind schon sehr genau. Bis zur Anwendung dauert es noch ein bisschen länger, weil sie erst vor kurzem entwickelt worden sind, aber auch bei den Basen-Editoren hat bereits die erste klinische Studie begonnen", sagt Schwank.

Konkret geht es bei dieser im Juli in den USA angelaufenen Studie darum, mithilfe eines Basen-Editors die Erbgutsequenz in einem Gen zu ändern, das eine wichtige Rolle bei der Regulierung des Cholesterinspiegels hat. Versuche an Tieren haben gezeigt, dass auf diese Weise die Cholesterinwerte im Blut und damit das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen stark gesenkt werden können – ohne erkennbare Nebenwirkungen. Die ersten Ergebnisse zu der Studie am Menschen werden 2023 erwartet.

Den größten Erfolg, den die Gen-Schere für die Medizin schon jetzt gebracht hat, sehen Schwank und Bock in einem anderen Bereich: in der medizinischen Forschung selbst. "In der Grundlagenforschung hat die Methode nach meiner Einschätzung die Erwartungen um mindestens eine Größenordnung übertroffen", sagt Bock.

"Durch CRISPR-Screenings verstehen wir, welche Gene wichtig sind für Resistenzen bei Krebsmedikamenten oder Zellinfektionen bei Viruserkrankungen." So hilft die Gen-Schere längst bei der Suche nach Genen, die es einer Krebszelle ermöglichen, resistent zu werden, oder die daran schuld sind, dass sich ein Virus Zutritt zu einer Zelle verschaffen kann. "In diesem Bereich hat CRISPR schon heute die größte medizinische Relevanz", sagt Bock. (David Rennert, CURE, 23.8.2022)