"Was zählt mehr: das individuelle Recht oder das Wohl aller?"

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Neue, innovative Therapien bringen Fortschritt in der Medizin, werfen aber teilweise auch schwierige ethische Fragen auf. Auch in der Pandemie spielen ethische Überlegungen eine wichtige Rolle. Wie sich dabei zwischen Fortschritt und Probandenschutz vermitteln lässt, beschäftigt den Medizinethiker und -historiker Florian Steger.

STANDARD: Durch Innovationen in der Medizin ergeben sich auch neue ethische Fragen. In welchen Fällen sollte man Fortschritt ermöglichen, und welche neuen biotechnologischen Möglichkeiten sollte man besser bleiben lassen?

Florian Steger: Der Fortschritt macht vieles möglich, ihn aufzuhalten ist unethisch. Es ist geboten, ihn in gewissen Bahnen zu ermöglichen und dabei auf den Schutz der Probandinnen und Probanden zu achten. Genau das ist die Aufgabe der Ethik. Wir wollen nichts verhindern, aber wir müssen vorsichtig sein. Nicht alles, was möglich ist, ist auch gut. Es gilt immer, Risiko und Nutzen im Blick zu behalten. Ganz wichtig ist auch, beim Zugang Fairness walten zu lassen. Es gibt wenige Gründe, jemandem Fortschritt vorzuenthalten.

STANDARD: In der Pandemie ist das bei der globalen Impfstoffverteilung weniger gut gelungen. Corona hat insgesamt viele ethische Fragen aufgeworfen. Wie kann man Fairness in der Pandemiebekämpfung erreichen?

Steger: Generell sollte immer das Prinzip der gleichen Zugänglichkeit zu Gesundheitsversorgung gelten, der fairen Verteilung von Gütern und Mitteln. Bei der Pandemie ging es ja vor allem darum, dass wir eine globale Herausforderung stemmen müssen. Es geht plötzlich nicht mehr nur um Risiko und Nutzen für den Einzelnen, sondern um das Gesamtwohl der Gesellschaft. Bei dieser Frage haben wir uns ganz schön schwergetan, welche Regeln wir verpflichtend verordnen sollen und welche nicht.

"Ethik fällt nicht vom Himmel, sondern hat immer einen historischen, sozialen und kulturellen Kontext." Florian Steger
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STANDARD: Ethische Fragen zu Impfpflicht, Triage oder Maskengebot haben uns in der Pandemie ziemlich überrollt – wie lässt sich zwischen den unterschiedlichen Interessen vermitteln?

Steger: In der Pandemie hat sich gezeigt, dass wir ganz schön verwöhnt sind mit unserer hochmodernen biowissenschaftlichen Medizin. Wir sind daran gewöhnt, für jedes gesundheitliche Problem eine Lösung zu haben, und gehen zur Ärztin oder zum Arzt mit der Erwartung, dass sie uns helfen oder gar heilen können. In der Pandemie war das nicht mehr der Fall. Das war eine ganz große Schwierigkeit für uns, dass wir erst einmal anerkennen mussten, dass wir es mit epistemischer Unsicherheit zu tun haben: Wir wissen nicht, ob das wirklich hilft oder nicht. In einer Pandemie gilt es immer abzuwägen: Was zählt mehr, das individuelle Recht oder das Wohl der Gemeinschaft? Das können nicht einzelne Expertinnen und Experten entscheiden, sondern es braucht eine breite gesellschaftliche Debatte und letztlich eine politische Entscheidung.

STANDARD: Sie haben auch historisch zu Pandemien geforscht. Wie haben sich die Menschen früher in so einer Situation verhalten?

Steger: Historisch sind Pandemien sehr bekannt. Zwar nicht dieses Coronavirus, aber die sozialen und psychischen Folgen einer Pandemie, wie wir sie jetzt erlebt haben, kann man im Grunde bereits in Schriften aus dem antiken Griechenland nachlesen. In der Schilderung der Attischen Seuche von Thukydides steht das alles schon drinnen, wie sich eine Epidemie und davon ausgehend dann freilich auch eine Pandemie psychisch und sozial auswirkt. Das Problem ist nur, dass wir leider nicht viel davon mitgenommen haben. Für die meisten von uns ist es die erste Pandemie zu unseren Lebzeiten, und obwohl die Situation historisch sehr bekannt ist, sind wir damit nicht vertraut. In so einer Situation sind wir als Gesellschaft schon sehr gefordert.

STANDARD: In der aktuellen Pandemie haben sich autokratisch regierte Staaten damit gerühmt, die Pandemie besser im Griff zu haben als demokratische. Sie haben erforscht, wie autokratische Staaten auf die aktuelle Situation reagiert haben, und sich intensiv mit der Medizingeschichte in der DDR beschäftigt. Was halten Sie jenen entgegen, die behaupten, dass Autokraten bessere Pandemiebekämpfer sind?

Steger: Ich habe mir das aktuell am Beispiel von Ungarn und Polen genauer angesehen und dabei festgestellt, dass teilweise schon Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung gesetzt worden sind, aber immer mit einer Hidden Agenda: Zum Beispiel wurden bestimmte Wahlkampfveranstaltungen untersagt, wenn einem die entsprechende Partei nicht genehm war. Man hat Freiheitsrechte, die jeden Tag neu verhandelt werden müssen, politisch instrumentalisiert, um politische Ziele durchzusetzen, und hat nicht mehr auf Gemeinschaftlichkeit und Verständigung gesetzt. Es ist erschreckend zu sehen, was da vor unserer Tür in Ungarn und Polen passiert ist. Zudem ist in autoritären Staaten die Fairness nicht so ausgeprägt. Minderheiten wie Migrantinnen und Migranten, Andersgläubige oder politisch Andersdenkende bekommen häufig nicht den gleichen Zugang zum Gesundheitssystem. Wir haben das auch in der Pandemie gesehen: In autoritären Staaten wurden beispielsweise die Roma oder Obdachlose überhaupt nicht mehr versorgt, weil man sie komplett vergessen hat. Daher ist ganz klar: Autokratie ist kein Rezept der besseren Pandemiebekämpfung! Ich bin froh, dass wir in unserer Demokratie sehr achtsam sind. Die Pandemie ist nicht vorüber, und wir müssen weiterhin vorsichtig sein, wie wir aufeinander achtgeben.

STANDARD: Wie kann es gelingen, dass diese Verhandlungsprozesse möglichst viele Menschen inkludieren?

Steger: Für mich ist es sehr wichtig, dass Ethik wirklich eine Ethik ist, die nicht einer bestimmten Glaubensrichtung verbunden ist, sondern eine säkulare Ethik, und auch nicht mit Recht verwechselt wird. Ethik fällt nicht vom Himmel, sondern hat immer einen historischen, sozialen und kulturellen Kontext. Es bedarf vieler Bildungsarbeit und vielen Werbens, um die Gesellschaft mitzunehmen. Sonst können wir die gesellschaftliche Auseinandersetzung über biowissenschaftlichen Fortschritt und seine Folgen nicht gemeinsam stemmen. (Tanja Traxler, CURE, 11.9.2022)