Die App ist weiterhin verfügbar – der politische Diskurs im Ausland abgeflacht.

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"Glaubt ja nicht, dass ihr im Ausland in Sicherheit seid." Mit diesem Satz ließ kürzlich der aus der Türkei stammende und in Wien lebende Integrationsexperte Kenan Güngör in einem Interview mit dem STANDARD aufhorchen. Dabei bezog er sich unter anderem auf eine App, die seit 2018 zum Bespitzeln und Anzeigen von vor allem im Ausland lebenden Türken genutzt wird. Versuche, sich zu wehren oder die Spitzel-Software offline zu nehmen, waren vergebens. Deshalb hat man sich gezwungenermaßen an die "digitale Gestapo-Methode" gewöhnt, wie die App von einem Geheimdienstexperten bereits 2018 in einem Interview mit der ARD bezeichnet wurde.

Kategorie Lifestyle

Sowohl im App-Store von Apple als auch im Google-Play-Store findet man die App EGM in der Kategorie Lifestyle und ohne genauere Inhaltsbeschreibung. EGM steht dabei für Ankara Emniyet Genel Müdürlüğü, die Zentralbehörde der türkischen Polizei in Ankara. Es handelt sich bei EGM Mobil also tatsächlich um eine App, die dafür entwickelt wurde, möglichst unkompliziert strafbare Handlungen zu dokumentieren und sie an türkische Behörden weiterzuleiten.

Aber wie funktioniert das in der Praxis? In der App findet sich eine Maske, in der die Personalien des Hinweisgebers, der Grund für die Anzeige, der angezeigte Sachverhalt und die Adresse beziehungsweise die Kontaktdaten der angezeigten Person eingegeben werden können. Relativ einfach lässt sich Bild- und Dokumentenmaterial zur Anzeige hinzufügen. Mit dem Absenden meldet man eine oder mehrere Personen direkt der türkischen Strafverfolgungsbehörde. Die denunzierte Person erfährt von der Anzeige erst bei der Einreise in die Türkei, weil türkische Behörden am Flughafen oder Bahnhof auf sie warten.

Die Zielgruppe der App ist klar definiert: Regierungsanhänger, die dazu aufgerufen sind, "Vaterlandsverräter" ausfindig zu machen und zu melden. So zu lesen unter anderem in den Kommentaren der App, die der Sicherheitsexperte Thomas Lennartz in einem Linkedin-Beitrag im Dezember 2018 zitierte. Andere Nutzer der App prahlten schon damals mit den vielen Anzeigen, die sie über die App abgegeben hätten.

Die App ist weiterhin kostenlos in den App-Stores zugänglich.
Foto: Google Play Store

Offizielle App

Als Initiator der App wurde der Vertrauensanwalt des türkischen Generalkonsulats in München, Serdal Altuntas, genannt. Er wird 2018 in einem Interview mit der ARD mit folgenden Worten zitiert: "Es kann nicht sein, dass hier in Deutschland jemand für die PKK, das ist die Terrororganisation, Propaganda macht, und die Türkei kriegt davon gar nichts mit." Weiters geht er darauf ein, dass die Gesetzgebung in der Türkei damals so abgeändert wurde, dass man von überall auf der Welt Strafanzeigen einreichen kann. Mit dieser App habe man das dazu passende Tool geschaffen.

In Deutschland wurde die Verwendung der App zumindest im Bundestag diskutiert. Auf Antrag der FDP wurde in der Debatte dem türkischen Präsidenten Erdoğan die Einrichtung einer "Spionage-App" vorgeworfen. Diese ermögliche Denunzierung und eine damit verbundene Anzeige an die türkischen Strafrechtsbehörden. Dies "könnte gegen Normen des deutschen Strafgesetzbuches verstoßen", so der Vorwurf. Nachdem sowohl eine Unterlassungsklage gegen die App-Anbieter als auch eine generelle Durchsetzbarkeit von den Parteien angezweifelt worden war, verschwand die App aus dem politischen Diskurs in Deutschland. In Österreich forderten die Grünen ebenfalls 2018, den Zugang zur EGM-App zu sperren, nachdem ein Journalist, ein Unternehmer und eine Kindergärtnerin aus Österreich in der Türkei wegen angeblichen Terrorverdachts festgehalten worden waren. FPÖ-Chef Dominik Nepp wies im Juli 2020 erneut auf die Spitzel-App hin, aber auch das hatte weder Einfluss auf den Weiterbestand von EGM Mobil noch auf eine neu angeheizte Diskussion des Themas im heimischen Nationalrat.

Allgemeine Angst

160.000 Verfahren laufen aktuell wegen Beleidigung des Präsidenten Erdoğan – wie viele davon allein mit der App ins Rollen gekommen sind, ist unklar. Über die Jahre gab es aber immer Berichte, wie regelmäßig die App für genau diese Zwecke eingesetzt wurde. Der Integrationsexperte Kenan Güngör sieht die App im Gespräch mit dem STANDARD aber nur als Teil einer erfolgreichen Kampagne gegen kritische Stimmen. Erst im Zusammenspiel mit neuen Gesetzen gegen Wortmeldungen in Social Media und der Aufbau einer "Troll-Armee", die für die Regierung Stimmung machte, hätte man die Kritiker nahezu mundtot gemacht. Im Interview sagt er: "Etwa 70 Prozent der türkischen Menschen in Österreich trauen sich nicht, in den sozialen Medien Kritik an der Türkei zu äußern!"

Vor allem die App habe dafür gesorgt, dass man sich auch in der bis dahin symbiotisch miteinander verbundenen Koalition zwischen AKP und Gülen-Bewegung nicht mehr gegenseitig über den Weg traue. Die Suche nach "Feinden" wurde durch die ausgelöste Angst des möglichen Verrats losgetreten – jeder konnte jeden anzeigen. "Das war wohl der größte Schaden, den die App und ähnliche Tools angerichtet haben", ergänzt Güngör. (aam, 18.8.2022)