Megalodon auf der Jagd nach Walen. Der gigantische Raubfisch konnte ganze Orcas in wenigen Bissen verschlingen.
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Im Laufe der Erdgeschichte haben die Meere einige Räuber hervorgebracht, die Stoff für Albträume sind: Im Erdmittelalter etwa machten zähnestarrende Mosasaurier die Ozeane unsicher. Später erklomm der 18 Meter lange Basilosaurus die Spitze der marinen Nahrungskette, der trotz seines Namens ein Meeressäuger war. Vor mehr als zwanzig Millionen Jahren betrat schließlich ein neues Spitzenraubtier die Bühne der Weltmeere: Bis zu seinem Aussterben vor etwa zwei Millionen Jahren war der riesige Hai Otodus megalodon der eindeutige König der Seeungeheuer.

Verräterische Zähne

Anders als seine Vorgänger in der Hall of Fame der schauerlichen Meereskreaturen hinterließ uns Megalodon, wie der Hai kurz genannt wird, keine mehr oder weniger vollständigen Skelette. Wie seine modernen Verwandten war auch Megalodon ein Knorpelfisch, dessen Skelett nur schlecht fossilisierte. Glücklicherweise besteht an den bis zu 16 Zentimeter großen Riesenhaizähnen kein Mangel, doch Fossilien anderer Körperteile sind rar.

Die Zähne des Weißen Hais wirken beinahe niedlich im Vergleich zu den fossilen Zähnen des Megalodons. Als harte Strukturen haben sich dessen Zähne im Gegensatz zum Skelett der Knorpelfische erhalten.
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Paläontologinnen und Paläontologen müssen sich also vor allem auf die Zähne der Raubfische beschränken, um sich ein Bild des Urzeithais zu machen. Doch es ist nicht unmöglich, Aussehen und Lebenswandel eines Tieres von dessen Zähnen abzuleiten. Die Beißerchen verraten dank neuer Analysemethoden mehr, als man denkt. Beispielsweise konnten Paläontologen aus dem Verhältnis der Stickstoffisotope im Zahnschmelz die Position des Riesenhais im Nahrungsnetz der Meere bestimmen.

Neues Computermodell

Dennoch zeichneten seine Zähne ein bisher eher schemenhaftes Bild von der Gestalt des Riesenhais. Umstritten ist etwa die exakte Größe des Megalodons. Neue Untersuchungen eines internationalen Forschungsteams um Jack Cooper und Catalina Pimiento von der walisischen Swansea-Universität und John Hutchinson vom Royal Veterinary College in London könnten nun dazu beitragen, einige Rätsel um den urzeitlichen Jäger zu lösen – mittels moderner Computersimulationen.

Um Megalodon zu rekonstruieren, nutzten die Wissenschafterinnen und Wissenschafter nicht nur Zähne, sondern auch einen seltenen Fund aus dem 19. Jahrhundert. Damals stießen Wissenschafter in Belgien auf die gut erhaltene Wirbelsäule eines Megalodons, der in den seichten Meeren verendete, die einst weite Teile Europas bedeckten. "Die Megalodon-Wirbelsäule ist ein einzigartiges Fossil", sagt Cooper begeistert.

Die eingescannten Wirbel sowie die Zahnfunde und ein Ganzkörperscan eines Weißen Hais ermöglichten es dem Team, ein 3D-Modell des Megalodons anzufertigen. Um etwa den Kopf des gewaltigen Hais nachzubauen, vergrößerten die Fachleute digital den Schädel eines Weißen Hais und versahen ihn mit einem rekonstruierten Megalodon-Gebiss.

Das Video erklärt kindergerecht, wie das Modell zustande kam und was man daraus über den Megalodon lernen kann.
Pimiento Research Group

Jäger der Superlative

Wie das Team in der Fachzeitschrift "Science Advances" berichtet, konnte es anhand des Computermodells die Länge des Hais auf 16 Meter bestimmen. Aus dem Volumen des Modells und der durchschnittlichen Dichte von modernen Haien (Ja, auch das wurde vermessen, sie beträgt 1.060 Kilo pro Kubikmeter) konnten die Fachleute eine Masse von über 61 Tonnen berechnen: Megalodon war mithin ein wahrer Gigant.

Darüber hinaus erlaubt die Körpermasse Rückschlüsse auf die durchschnittliche Schwimmgeschwindigkeit der Haie. Die Tiere patrouillierten demnach mit circa fünf Stundenkilometern die Meere. Damit übertrifft seine Durchschnittsgeschwindigkeit die aller heute lebenden Haie. Um dieses Tempo aufrechtzuerhalten, muss Megalodon sehr energiereiche Nahrung zu sich genommen haben. Wie Bissspuren an fossilen Walskeletten belegen, standen die Meeressäuger ganz oben auf dem Speisezettel des Raubfischs.

Wie das neue Computermodell zeigt, konnte Megalodon einen acht Meter langen Orca nicht nur mit weniger als fünf Bissen fressen. Der Schwertwal hätte auch im Ganzen im Magen des Megalodon Platz, der wohl ein Fassungsvermögen von etwa zehntausend Litern hatte. Somit konnte der Hai genug Blubber zu sich nehmen, um seinen Energiebedarf zu decken, den die Fachleute auf täglich rund 98.000 Kilokalorien schätzen.

Wandernde Superräuber

Die energiereiche Fettschicht der Wale könnte es dem Jäger dennoch erlaubt haben, etwa zwei Monate ohne Nahrung zu überdauern. Megalodon war daher wohl auch ein Weitwanderer.

"Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass dieser riesige Hai ein transozeanischer Spitzenräuber war", sagt Pimiento. Damit könnte Megalodon wichtige Rollen im Nahrungsnetz der Meere erfüllt haben. Einerseits waren die Haie Teil des globalen Nährstoffstroms: Auf ihren Reisen hinterließen die Tiere Ausscheidungen – oder Kadaver – und transportierten so Nährstoffe in kurzer Zeit von A nach B. Andererseits jagte der gewaltige Hai als Spitzenprädator selbst Räuber, wodurch er deren Population in Schach hielt.

Doch wie verlässlich ist dieses Computermodell? Zunächst beruht jedes Modell auf Annahmen, die sich später als falsch herausstellen können. Aus den gefundenen Fossilien geht etwa nicht hervor, dass der Körper des Megalodons dem eines Weißen Hais ähnlich war. Wie der deutsch-amerikanische Paläontologe Hans Sues im Gespräch mit dem Fachblatt "Science" sagt, sollte man sich Megalodon nicht als überdimensionalen Weißen Hai vorstellen. Der Urzeithai wäre demnach schlanker gewesen und mehr wie der Langflossen-Mako geformt, sein nächster lebender Verwandter.

Die Körperform von Langflossen-Makos ähnelt denen des ausgestorbenen Megalodons. Im Bild ist allerdings ein ähnlich gebauter Kurzflossen-Mako.
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Dennoch scheint die Modellmethode des Teams um Cooper, Pimiento und Hutchinson nicht unplausibel. "Die Rekonstruktion hat gut funktioniert, als wir sie auf noch lebende Tiere angewandt haben", erklärt Hutchinson. Die Übereinstimmung sei demnach zufriedenstellend, vor allem da es natürliche Größenschwankungen zwischen Individuen einer Spezies gibt. Trifft das Modell der Fachleute zu, wäre Megalodon nicht nur schneller, größer und gefräßiger als gedacht, auch seine Rolle im Ökosystem der Ozeane wäre bisher unterschätzt worden.

Als sich jedoch die Meere im Pliozän zurückzogen, ging den Megajägern wichtiger küstennaher Lebensraum verloren. Zudem konkurrierten sie zunehmend mit kleineren Haien um dieselbe Beute – ein Rennen, das Megalodon vor rund zwei Millionen Jahren endgültig verlor –, laut einer neuen Studie im Fachblatt "Nature Communications" ausgerechnet gegen den Weißen Hai, seinen vergleichsweise zwergenhaften Nachfolger als Spitzenräuber. (Dorian Schiffer, 18.8.2022)