"Meinst du, der liebe Gott verschwendet einen Namen an ein Tier?" Und so nennt Zlabya, die kleine Tochter des Rabbiners, die zugelaufene Katze einfach "meine Katze". Schließlich musste der Rabbiner froh sein, denn der kleine Kater ersparte ihm eine Erklärung für seine Tochter, zu der er nicht in der Lage war: dass er nämlich gerade ihre Mutter, seine geliebte Frau, beerdigt hatte.

Der Rabbiner war schon beschäftigt genug mit all den Regeln, die die jüdische Religion für einen Witwer bereithielt. Sprachlos, traurig, enttäuscht haderte er mit seinem Gott: "Ich sagte nicht: Der Gott der Juden ist ein Spaßvogel, aber sein Sinn für Humor ist mir zu hoch. Sobald er dich liebt, kannst du sicher sein, dass du in große Schwierigkeiten gerätst."

Haus der Trauer

Kann auch als kluge Einführung in das Judentum gelesen werden: Joann Sfars "Die Katze des Rabbiners".
Foto: Avant-Verlag

Da kam ihm diese Katze gelegen. Sie ist überall, schmeißt viel um und miaut andauernd. "Ein Haus, in dem getrauert wird, braucht genau diese Lebendigkeit", befindet er. Vor 20 Jahren hatte der französische Comiczeichner Joann Sfar Die Katze des Rabbiners geschaffen und seither sein Lesepublikum, zu dem übrigens der amtierende österreichische Bundespräsident zählt, mit einer Fülle von Geschichten voller Witz und Einfallsreichtum und in einem unverwechselbar flüchtig-kribbeligen Zeichenstil beschenkt.

Auf Deutsch wurden soeben die Einzelbände neun und zehn in einem Sammelband veröffentlicht. Im französischen Original ist bereits Band elf erschienen. Die Reihe ist noch nicht abgeschlossen, doch längst schon ein Klassiker. Sfar erzählt und zeichnet wie ein Zauberer. Seine Bildergeschichten schütten Serotonin aus. Was Bert Brecht angeblich in Bezug auf Horaz äußerte, das lässt sich uneingeschränkt auf diesen Autor anwenden: Gebt mir Sfar zu lesen, dann wird mir wohler.

Große Familiengeschichten

Neben vielen anderen Comics und Serien zeichnet der Autor und Regisseur Sfar seit zwei Jahrzehnten zwei große Familiengeschichten auf: Während es in Die Katze des Rabbiners um die Welt der sephardischen Juden in Algerien zu Beginn des letzten Jahrhunderts und um eine Spurensuche in der Geschichte seines Vaters geht, skizziert der Zeichner in Klezmer die Welt ukrainisch-russischer Ostjuden in der letzten Phase des Zarenreichs, die den Hintergrund für die Geschichten seines Großvaters mütterlicherseits abgibt.

Formal hat der Zeichner die fünfbändige Klezmer-Reihe vor einigen Jahren zum Abschluss gebracht, doch nun tauchen seine Figuren, die nach dem schrecklichen Pogrom von Kischinew, heute Chişinãu, im Jahr 1903, offenbar Russland verlassen hatten, im zehnten Band der Katze des Rabbiners wieder auf.

Fortsetzungserzählungen

Die beiden Fortsetzungserzählungen waren allerdings bereits lange zuvor auf intim-verborgene Weise miteinander verflochten: So spiegelt sich in der spitzfindig-philosophischen Katze der ehemalige Talmudschüler Jaacov aus der Klezmer-Serie, der in Sfars Großvater ein Vorbild hat. Dass sie plötzlich der Sprache mächtig war, hatte damit zu tun, dass die Katze den Papagei gefressen hatte. Die Episode lässt der Autor im neunten Band erneut, aus einem anderen Blickwinkel, schildern und beweist, dass er, ohne Langeweile auszulösen, dasselbe ein Dutzend Mal erzählen könnte.

Durch ihre provokanten Fragen, respektlos-blasphemischen Kommentare und ungenierten Widersprüche fordert die ansonsten durchaus charmante Katze das traditionelle, aber tolerante jüdische Denken des Rabbiners unentwegt heraus. Im Vergleich zur sprachbegabten Katze mit all ihren Frechheiten und gnadenlosen Lügen, die das System der Sprache eben erlaubt, erscheint die Tochter des Rabbiners vorbehaltlos liebenswürdig, doch angepasst.

Selbstbestimmung

Damit bildet Zlabya ein charakterliches Gegenstück zu Chava, einer äußerlich gleich gezeichneten Frauenfigur in Klezmer, die jedoch unter völlig anderen sozialen Bedingungen ganz gegensätzliche Züge von Rebellion und Selbstbestimmtheit entwickelt. Nun aber überrascht Sfar mit einer Rückblende in Zlabyas Jugendjahre – etwa zwischen Band eins und zwei der Serie anzusiedeln – und verpasst ihr eine bisher unbekannte aufmüpfige Seite, die an die anarchistischen Züge der Klezmer-Truppe erinnern. Um sich als junge Frau im Algerien der 1920er-Jahre frei zu bewegen, wirft sie sich in Männerkleidung, schneidet sich die Haare ab und gelangt in ihrem Übermut bis nach Israel, in einen kommunistischen Kibbuz.

Foto: Avant-Verlag

Dass man in Sfars Geschichten nebenbei sehr viel über jüdisches Denken und jüdische Kultur erfährt und somit eine ebenso vergnüglich-witzige wie kluge Einführung ins Judentum im Allgemeinen wie im Besonderen erhält, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass seine Familiengeschichten zwar einen realistischen Hintergrund haben, jedoch zugleich, wenngleich präzise, Erfindungen sind.

Erinnerungslücken

Es sind die Leerstellen in den Geschichten seiner Vorfahren und seine eigenen bewussten "Erinnerungslücken", die den Erzähler Sfar beflügeln. Mit seinen "rettenden Fantasien" (ein Wort von Katja Petrowskaja) schafft er, wie einst Marc Chagall in seinen Bildern, für seine jüdischen Figuren Unterschlupf in seinen Comics. "Mich interessiert es, eine Welt zu erfinden, in der sie (Sfars Vater und Großvater) glücklich gewesen wären. Mein Vater wäre glücklich mit der Katze des Rabbiners, und mein Großvater ist der Schelm Jaacov aus Klezmer."

Sfar weiß sehr genau um den Schmerz der Juden, immer wieder taucht die Angst auf, verknüpft mit Schuldgefühlen, und sein Kater ist bestens unterrichtet: ",Jude‘ bedeutet auf Hebräisch: ,Du hast immer Angst.‘" Um Trost zu finden, ist die Katze sogar bereit, in der Thora zu lesen. Das Ergebnis jedoch ist enttäuschend: "Wie bitte soll mich das trösten?" "Auf jeder Seite versucht jemand sie auszurotten! (...) Wäre ich Antisemit, wäre die Thora mein Lieblingsbuch: Es wimmelt nur so von sterbenden Juden!"

Nach Hause

Joann Sfar, "Die Katze des Rabbiners". Sammelband 4. Aus dem Französischen von Annika Wisniewski. Avant-Verlag, Berlin 2022. (Der Sammelband besteht aus Band 9 "Die Königin Sabbat" und Band 10 "Geht zurück nach Hause!" der Einzelausgaben.)
Cover: Avant Verlag

Um das Thema Antisemitismus windet sich auch dieser Sammelband nicht herum: Geht zurück nach Hause! heißt der zehnte Band. Zlabyas Mann, der junge, etwas besserwisserische Rabbiner, möchte nicht, dass seine Kinder in einem Land aufwachsen, in dem sie sich als "Drecksjuden" beschimpfen lassen müssen. "Wir fahren nach Israel!"

Doch zuerst werden lediglich Reiseerfahrungen im Nahen Osten ausgetauscht, die zwischen 1870 und den Zwanzigerjahren stattfanden, als Europäer sich in Jerusalem auf die Suche nach pittoresker Ursprünglichkeit wie Spiritualität machten, und später, als die nicht unbedenkliche Balfour-Deklaration (1917) bei zionistischen Juden aus aller Welt Hoffnungen auf eine "nationale Heimstätte" weckte.

Das Gelobte Land

Erst 1973, als die Familie in Nizza lebt, kommt es tatsächlich zu einer Israel-Reise. Zlabya, inzwischen Großmutter, hat nicht die Absicht zu bleiben. Ihr Mann dagegen möchte seine Enkelkinder auf Israel als den einzigen Ort auf der Welt einschwören, "wo niemand euch als Drecksjuden beschimpft". Schließlich – eine typische Volte des Autors – wird er von Bewohnern des vermeintlich Gelobten Landes als "Drecksaraber" beschimpft.

Zurückgelehnt, angesichts der unerschöpflichen Groteske menschlicher Unverschämtheiten, bricht der Alte selbst in Lachen aus. "Ja, mit der Zeit konnte ich ihm ein wenig Sinn für Humor beibringen." Das kommt natürlich von der Katze. Und so geht die Reise zurück nach Nizza. Aber dort wird sie, zum Glück für die Leser, noch nicht enden. (Martin Reiterer, ALBUM, 20.8.2022)