Das Poliovirus wird immer wieder im Abwasser gefunden. Es hat auch bereits Infektionen ausgelöst.

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Abwasseruntersuchungen zum Virusmonitoring haben in der Corona-Pandemie wichtige Informationen zu Virusverbreitung und neuen Varianten geliefert. Doch man findet nicht nur das Coronavirus und seine Mutationen in der Kläranlage. Auch andere Krankheitserreger tauchen dort auf, wie etwa Polioviren – die eigentlich in vielen Ländern als ausgerottet gelten. In den vergangenen Monaten wurden sie wiederholt in den USA, in Großbritannien und in Israel nachgewiesen.

Dabei handelt es sich aber nicht um Polioviren das Wildtyps, sondern um Erregerstämme, die sich aus dem abgeschwächten oralen OPV-Impfvirus, mit dem die Schluckimpfung durchgeführt wird, entwickelt haben. Es ist ein sogenanntes Vaccine-Derived Poliovirus (VDPV). Polio-Wildtypviren zirkulieren aktuell nur noch in wenigen Ländern der Erde. Doch weltweit kommt es vermehrt zu lokalen Ausbrüchen von VDPV, weil zur endgültigen Ausrottung der Polio weiterhin Schluckimpfungen mit abgeschwächten Polioviren eingesetzt werden.

So einen Ausbruch gab es etwa im März 2022 in Israel. Ein ungeimpftes vierjähriges Kind in der Region Jerusalem erlitt akute schlaffe Lähmungen, sechs weitere Kinder waren asymptomatisch erkrankt. Untersuchungen ergaben, dass es sich bei dem Virus um eine VDPV2-Variante handelte, die verwandt war mit Polioviren aus Abwasseruntersuchungen, die in Proben seit September 2021 aufgetreten waren.

Mutiertes Virus aus Schluckimpfung

Mit einem ähnlichen Stamm infizierte sich im Juni ein ungeimpfter junger Mann im Bundesstaat New York. Abwasseruntersuchungen zeigten, dass sich, bereits 25 Tage bevor der Patient Symptome entwickelt hatte, VDPV2 in den Proben befunden hatte. Daraus lässt sich schließen, dass dieser Erreger bereits länger in der Region zirkulierte und vermutlich eingeschleppt wurde. In London wurden die Gesundheitsbehörden im Juni aufmerksam, als wiederholt Polioviren in Abwasserproben gefunden wurden, was darauf hinweist, dass Impfviren in der Bevölkerung zirkulieren.

Abgeschwächte Polioviren aus der Schluckimpfung wie VDPV2 können längere Zeit unerkannt unter ungeimpften Personen zirkulieren und sich verändern. In einigen Fällen treten Mutationen auf, die das Virus wieder krankheitserregend werden lassen. Auch Lähmungen können in seltenen Fällen auftreten. Anstatt einer Schluckimpfung wird aus diesem Grund in Deutschland seit 1998 und mittlerweile in vielen Ländern weltweit die Impfung mit einem inaktivierten Polio-Impfstoff (IPV) empfohlen. Nichtdestotrotz kommt die Schluckimpfung weiterhin zum Einsatz.

Und obwohl hierzulande noch keine Polioviren entdeckt wurden, ist die Impfung weiterhin wichtig. Denn niedrige Impfquoten bergen das Risiko, dass sich aus Drittländern eingeschleppte OPV-Impfviren ausbreiten, verändern und dann ungeimpfte oder trotz Impfung ungeschützte Personen infizieren können. Die Impfquote für Polio liegt in Deutschland bei Kleinkindern im Alter von 15 Monaten bei 90,1 Prozent. Eine Auswertung bei Erwachsenen im Jahr 2013 ergab eine Impfquote je nach Altersgruppe zwischen 68,0 und 92,6 Prozent.

Doch was bedeutet die Tatsache, dass Polioviren im Abwasser gefunden wurden, für Deutschland oder Österreich? Ist so ein Vorkommen auch bei uns möglich? Und werden Abwasserproben überhaupt auf das Vorkommen von Polioviren untersucht?

Österreichischer Abwasserschwerpunkt auf Sars-CoV-2

In Österreich liege der Schwerpunkt der Abwasseruntersuchungen bisher auf Sars-CoV-2, sagt Andreas Bergthaler, Leiter des Instituts für Hygiene und Angewandte Immunologie an der Med-Uni Wien. "Es laufen aber bereits eine Reihe an wissenschaftlichen Untersuchungen, um auch andere Pathogene nachzuweisen und zu quantifizieren." Für den Nachweis des Poliovirus müsse man dabei unterscheiden, ob es sich um den Impfstamm oder tatsächlich das Wildtyp-Poliovirus handle. Bergthaler schließt aber nicht aus, dass man sowohl Polioviren als auch andere potenziell krankmachende Erreger im Abwasser in Mitteleuropa finden kann.

Tatsächlich wurden Polioviren bereits in den 1930er- und 1940er-Jahren erfolgreich im Abwasser detektiert, Länder wie Israel nützten die Methode deshalb schon länger als Frühwarnsystem. "Offensichtlich brauchte es aber die aktuelle Sars-CoV-2-Pandemie, um die Möglichkeiten der Abwasseruntersuchungen für die Epidemiologie von Infektionserkrankungen und die Gesundheitsbehörden so richtig hervorzuheben", sagt Bergthaler, der selbst einen Forschungsschwerpunkt in diesem Bereich hat.

Der Molekularimmunologe weist aber darauf hin, dass jeder Erreger unterschiedliche Infektionswege nimmt, unterschiedliche biologisch-chemische Eigenschaften besitzt, anderen epidemiologischen Gesetzmäßigkeiten unterliegt und teilweise auch andere technische Voraussetzungen für die Aufarbeitung von Abwasserproben verlangt. Daher seien noch viele stringente wissenschaftliche Untersuchungen nötig, um das volle Potenzial von Abwasseruntersuchungen für die Überwachung von Infektionserregern auszuschöpfen.

Aufwendiger Prozess

Sabine Diedrich, Leiterin des Nationalen Referenzzentrums für Poliomyelitis und Enteroviren am Robert-Koch-Institut (RKI) in Berlin, betont, dass das Abwasser auf Polioviren zu untersuchen aufwendig sei und für valide Ergebnisse wesentlicher sensitiver sein müsse als bei Sars-CoV-2. Das Virus könne auch lange unbemerkt zirkulieren, weil nur eine von 200 infizierten Personen tatsächlich eine Polioerkrankung entwickle. "Der Nachweis von Polioviren im Abwasser ist aber eine sehr effektive Möglichkeit, um die Poliosituation eines Landes zu bewerten – und auch die Poliofreiheit festzustellen."

Gerade vor dem Hintergrund, dass Polio eben nicht in allen Ländern völlig ausgerottet sei und aus solchen durch Globalisierung oder Tourismus wieder eingeschleppt werden könne, sei das Aufrechterhalten einer hohen Impfquote wichtig, betont Kathrin Keeren von der Geschäftsstelle der Nationalen Kommission für die Polioeradikation in Deutschland am RKI. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfehle deshalb eine Impfquote von 95 Prozent auch in bereits poliofreien Regionen. Eine Therapie gegen die durch das Virus ausgelöste Poliomyelitis gebe es nicht, die Impfung sei aber eine effektive Prävention.

Neuentwicklung eines sicheren Impfstoffs initiiert

Dass neben den Polio-Wildtypviren auch Polio-Impfviren mutieren und insbesondere bei immunologisch gefährdeten Menschen eine Poliomyelitis auslösen können, sei schon lange bekannt, sagt Fred Zepp, ehemaliger Direktor des Zentrums für Kinder- und Jugendmedizin an der Universitätsmedizin Mainz und Mitglied der Ständigen Impfkommission (Stiko) in Deutschland. "Weil die Infektionen in den vergangenen Jahren immer durch Polio-2-Viren, also mutierte Impfviren, aufgetreten sind, niemals durch den Wildtyp, hat die WHO im April 2016 das lebende Impfvirus Polio Typ-2 weltweit aus allen oral verabreichten Polio-Impfstoffen entfernt und die Neuentwicklung eines sicheren Polio-2-Lebendimpfstoffs initiiert." Diese Entwicklung sei auch erfolgreich verlaufen, und eine neue, orale Polio-2-Lebendvakzine wird in mehreren Ländern, vor allem in Afrika, schon erfolgreich eingesetzt. (kru, 19.8.2022)