Die Spitzen des alten EU-Tandems: Deutschlands Kanzler Olaf Scholz und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron.

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Endlich ist alles wieder normal – zumindest was die engeren Umstände betrifft. Das Forum Alpbach findet heuer, so wie früher, als "rein analoges" Event statt, wie die Veranstalter mitteilen. Der gemischte Modus aus Videokonferenz und persönlichen Treffen, den man zuletzt wegen Corona einsetzte, hat ein Ende. Statt auf Kontakt via Bildschirm stehen die Zeichen auf persönlichen Austausch.

Die Treffen sollen wieder alle im vollen Umfang stattfinden, die Persönlichkeiten aus österreichischer und internationaler Politik, aus Unternehmen und Wissenschaft sollen einander im Tiroler Ort begegnen. Heilige Messe in der Früh, "Get2Gether" am Nachmittag, der Networking-Programmpunkt "Fremd in der Gondel" am nächsten Tag – alles ist dabei.

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron sieht sich gerne als jemand, der die Zeichen der Zeit früh erkennt.
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Außerhalb des "Bergdorfs der Denker", wie die Gemeinde sich selbst gerne nennt, ist dagegen fast nichts mehr wie früher: Das "neue Normal" gibt es zwar, das auf die Hochphase der Corona-Pandemie folgte. Doch hatte es sich noch kaum etabliert, als Wladimir Putins Russland am 24. Februar die Ukraine überfiel. Seither ist die Welt aus den Fugen, besonders die politische und wirtschaftliche Ordnung auf dem Kontinent.

Das alte Europa mit den bekannten Sicherheiten gibt es nicht mehr. Statt des Friedensprojekts EU dominiert der Krieg mitten in Europa. Die EU muss sich neu erfinden. Wie "The New Europe" aussehen könnte, soll im Programm des Forum Alpbach 2022 ergründet werden.

"Zeitenwende" in Europa

Zeigen lässt sich der Wandel am wichtigsten Partner: Mit "The New Germany" titelte dieser Tage der britische Economist seinen Blattaufmacher. Das Magazin streicht die wirtschaftlichen Änderungen hervor: das Ende des Vertrauens auf billiges russisches Gas, frische Milliardeninvestitionen in die erneuerbaren Energien – und viele Fragezeichen, was die Zukunft der Industrie anbelangt.

Mit der "Zeitenwende", die Kanzler Olaf Scholz nach Kriegsbeginn verkündete, geht aber vor allem auch Aufrüstung einher. Statt des militärisch zurückhaltenden Deutschland, das seit dem Zweiten Weltkrieg im Zentrum der EU stand, ist nun plötzlich eine wehrhafte Union gefordert.

Zwei Prozent des BIP will Deutschland nun in Zukunft für die Verteidigung ausgeben. Zur Freude der Nato, weil Berlin damit endlich das Ziel der Allianz erfüllen würde. Schon zuvor hat das Land begonnen, Kiew Waffen zu schicken. Bisher hatte es als Tabu für die Bundesrepublik gegolten, Rüstungsgüter an jene zu liefern, die sie in einem Kriegsgebiet einsetzen.

Sollbruchstelle

Ob das aber reicht, um an der Führungsrolle in der Union festzuhalten? Die Kritik, die aus dem Osten der EU in Richtung Berlin schallt, verstummt jedenfalls nicht. Zu zögerlich sei der Umgang mit Russland noch immer, zu wenig Unterstützung leiste die deutsche Regierung für Kiew. Eine europäische Sollbruchstelle zeichnet sich ab. Akut werden könnte sie, wenn es um Friedensverhandlungen geht und um Zugeständnisse an Moskau.

Noch im Wahlkampf 2021 hatte Olaf Scholz damit gepunktet, dass seine Persönlichkeit jener von Vorgängerin Angela Merkel ähnelt: bedächtig agieren; ausgleichen; nur keine vorschnellen Entscheidungen; lieber ein Wort zu wenig als eines zu viel. Nun sieht das behäbig aus statt überlegt.

Mit der "Zeitenwende", die Kanzler Olaf Scholz nach Kriegsbeginn verkündete, geht aber vor allem auch Aufrüstung einher.
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Als Scholz vorige Woche beim Besuch von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas nicht reagierte, als dieser von "50 Holocausts" unter Palästinensern sprach, für die Israel verantwortlich sei, galt das als Beispiel für die Trägheit des Regierungschefs.

Unerquickliche Gespräche

Dabei liegt sicher nicht alles an Scholz. Auch die Kabinette Merkels hatten es sich eineinhalb Jahrzehnte im Wohlstand und Frieden bequem gemacht, auf billige Gaslieferungen gebaut, Warnungen vor Moskau in den Wind geschlagen. Doch in Scholz’ Ampelkoalition gibt es nun ein anderes Problem: SPD, Grüne und FDP präsentieren sich als die unterschiedlichen Parteien, die sie sind. Folge ist Vielstimmigkeit, die den Glauben an die Neuausrichtung in Berlin nicht fester werden lässt.

Und dann ist da noch der zweite Partner im alten EU-Tandem. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron sieht sich gerne als jemand, der die Zeichen der Zeit früh erkennt. In der Krise präsentiert er sich aber als Traditionalist. Über seine Telefongespräche mit Putin sagte er zwar schon im April zur Zeitung Le Parisien, sie seien "von Zynismus geprägt und nie ein Vergnügen". An der Sitte, miteinander im Gespräch zu bleiben, hält er dennoch fest.

Ansonsten hat sich Frankreichs gewöhnlich umtriebige Diplomatie in den vergangenen Wochen eher still verhalten – zumindest was öffentliche Äußerungen zum Konflikt betrifft. Immerhin kann Macron für sich beanspruchen, die verstärkte Militärzusammenarbeit in der EU schon seit Jahren gefordert zu haben.

EU-interne Probleme

Einfach wird ihr Aufbau nicht, die Union ist von internen Problemen abgelenkt: Italien steckt wieder einmal in einer politischen Krise. Seitdem die Fünf-Sterne-Bewegung die Konsensregierung Mario Draghis gesprengt hat, befindet sich das Land im Sommerwahlkampf. Glaubt man den Umfragen, steht der Sieger des Votums von Ende September schon jetzt fest: Das Mitte-rechts-Bündnis, geführt von der EU- und Nato-kritischen Postfaschistin Georgia Meloni, wird siegen. Europäische Impulse wären von dieser Regierung gewiss nicht zu erwarten, jedenfalls keine positiven.

Auch das Verhältnis zu London ist nach dem Brexit noch immer ungeklärt – und das ist noch höflich ausgedrückt. Wer nach Boris Johnsons unrühmlichem Ende das Premiersamt übernimmt, ist noch offen. Klar ist aber schon jetzt: Weder Favoritin Liz Truss, noch Konkurrent Rishi Sunak wären für die EU angenehme Partner. In Sachen Ukraine sind sie Falken – anders als Berlin und Paris.

Osten hat an Statur gewonnen

Im Westen türmen sich also die Probleme. Verschieben sich die Gewichte also nach Osten? Polen und das Baltikum haben in der Krise an Statur gewonnen. Zugleich bröckeln alte Allianzen. Bisher im Hang zu autoritärem Rechtspopulismus geeint, leben sich Ungarn und Polen auseinander.

In Budapest laviert Premier Viktor Orbán zwischen Moskau und dem Westen herum und poltert gegen Sanktionen. In Warschau spricht man einem noch härteren Vorgehen das Wort. Bisher war die Visegrád-Gruppe Sprachrohr beider Länder. Nun wirkt sie zahnlos und zerstritten.

Können kleinere EU-Staaten zum Reformmotor werden? Bisher haben Länder wie Österreich EU-Maßnahmen mitgetragen, selbst aber kaum Akzente gesetzt. Wien wäre gern Vermittler, doch die Grenzen in diesem Metier sind eng gesteckt. Das zeigen die Kiew- und Moskau-Besuche von Kanzler Karl Nehammer.

Gefragt ist also eine neue Rolle oder zumindest eine Diskussion darüber, wie sie aussehen kann. Für Österreich bedeutet das auch, das Verhältnis zwischen Neutralität und EU-Verteidigungsarchitektur neu zu überdenken.

Der US-Elefant im Raum

International ist Europa ins Zentrum gerückt – für den Moment. Der "Pivot to Asia", mit dem die USA sich seit Jahren in Richtung Pazifik umorientieren wollen, ist gebremst. Für wie lange, steht in den Sternen. Besser gesagt ist überhaupt offen, wie lange sich Washington noch für die Welt interessieren wird.

Schon unter Präsident Donald Trump stand der US-Nato-Beistand wiederholt auf der Kippe. Nun regiert mit Joe Biden zwar ein Transatlantiker alter Schule. Doch auch die USA stecken in der Dauerkrise. Nach den nächsten Wahlen könnte sie sich verschärfen. Dass dann noch Politiker regieren, deren Horizont über die eigene Hemisphäre hinausreicht, ist nicht gesichert. Selbst wenn, ist unklar, ob sie durch Unruhe im eigenen Land nicht zunehmend daran gehindert werden, diesen Interessen effektiv nachzugehen.

Die nächste US-Präsidentenwahl ist in zwei Jahren, im November 2024. Viel Zeit bleibt dem "neuen Europa", dessen Entwürfe in Alpbach diskutiert werden sollen, also nicht, eine neue, eigene Rolle in der Welt zu finden. (Manuel Escher, 21.8.2022)