Sängerin und Gitarristin Amy Love ist eine Hälfte des fantastischen Rockduos Nova Twins.

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Auf einem Festival gibt es objektiv betrachtet dumme Dinge, die aus subjektiver Sicht durchaus ihren Reiz haben. Denn mit Sicherheit kann es Spaß machen, sich nach drei durch den Trichter genossenen Mut- und Muntermachern mit einer Wasserbazooka zu bewaffnen, um am Campinggelände Räuber und Gendarm zu spielen.

Zu den objektiv betrachtet nicht so tollen Dingen gehört auch, dass am Frequency die mitunter spannendsten Acts konsequent in einer Halle verräumt werden, in die sich an einem schönen Nachmittag so gut wie keine Laufkundschaft verirrt. Subjektiv aber kommt man dort dann meistens in den Genuss quasi exklusiver Wohnzimmerkonzerte – so geschehen am Freitag bei dem britischen Duo Nova Twins.

Vor gerade einmal 70 versammelten Willigen rechtfertigten die Aufsteigerinnen die Lobeshymnen, die ihnen von der Musikpresse entgegengebracht werden. Mit dem Release ihres zweiten Albums Supernova waren sie etwa am Rolling-Stone-Cover. Und das nicht ohne Grund. Als schwarze Frauen ist ihnen im männlich und weiß dominierten Rockgenre, das obendrein nicht mehr gar so viel Nachwuchs erfährt wie noch in den Neunzigerjahren, ein Alleinstellungsmerkmal sicher – wenngleich hinzuzufügen ist, dass schon der gewaltige Sound, den die beiden produzieren, Verkaufsargument genug wäre.

In der Garage mit den Nova Twins

Nova Twins fügen sich zusammen aus der Sängerin und Gitarristin Amy Love und der Bassistin Georgia South, live geht hinten zudem ein Schlagzeuger in die Vollen. Bevor dem aber so sein konnte, hatten die Twins noch mit technischen Problemen zu kämpfen. Schwups wurde eine Gitarre getauscht, dann aber rächte man sich am Gerät. Es setzte krachenden Nu-Metal-Punkrock mit Rapelementen, Bassläufe wie mit dem Maschinengewehr, ekstatischen Schreigesang, harte Gitarrenriffs bis einem das Trommelfell weich wird.

ARTE Concert

Wissend wie ein schüchternes Wohnzimmerpublikum zu einer Garagenpartymeute hochgepitcht werden kann, sprangen die Twins zwei Mal ins Getümmel und spielten vor der Bühne weiter – im Auge eines Tornados quasi, denn das Publikum spielte mit und rannte um die sich so volksnah Gebenden im Kreis herum. Damit war eigentlich alles gesagt, auch die letzten Zweifelnden sollten überzeugt werden, dass man es hier mit einer Band zu tun hat, die man sich merken sollte.

Nova Twins

Draußen auf der großen Bühne ödete zur selben Zeit banaler Schlurf-Hip-Hop an, bis es dann mit Anne-Marie auch hier spannend wurde: Die britische Popsängerin mit einem Namen, der sich normalerweise nur schwer vermarkten lässt, bringt seit Jahren immer wieder Hits hervor, die sich unbemerkt beim Einkaufen oder Autofahren in den Gehörgang schleichen und diesen nie wieder verlassen. Dass die 31-Jährige mit ihrer Mischung aus Diva und sich erhaltener Teenager-Coolness aber auch ein großes Livepublikum verzücken kann, ohne dass einem die Füße einschlafen, ist stark.

Die britische Sängerin Anne-Marie wusste mit Charme und Hits zu begeistern.
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Zartharte Stimmung mit AnnenMeyKantereit

Selbiges galt dann auch für die deutsche Band AnnenMayKantereit. Das Quartett um das Zentralgestirn Henning May, 2011 gegründet, wuchs über die Jahre stetig und hielt dabei die Qualität. 2022 tritt man mit zusätzlichem Streich- und Bläserensemble sowie neuer Bassistin vor das Publikum – ein Gewinn auf allen Ebenen. Sänger und Multiinstrumentalist May kann noch immer auf sein engelsgleiches Äußeres kontrastiert durch eine dunkle Zuhälterstimme zählen – zarthart wäre vielleicht ein Wort dafür. Hits wie Pocahontas, Marie, Ausgehen oder natürlich die Zugabe Barfuß am Klavier gab es am Frequency fast schon kitschig wie bestellt mit leichtem Sommerregen.

Harte Stimme, weiches Herz: Henning May überzeugte mit seiner Band mit orchestralem Sound.
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So hätte es eigentlich ausklingen können, aber mit dem deutschtürkischen Rapper Apache 207, Streaming- und Youtube-Krösus, mit dem sich das verzückte Jungpublikum schon tagsüber um Selfies raufte, musste noch einmal einer draufgesetzt werden. Der "Indianer" (Selbstbezeichnung) legte seinen Auftritt zwar weit weniger muskel- und goldkettenprotzig an wie noch am Tag zuvor die Gürtelgang um RAF Camora, und er rappte immerhin sogar selbst, unterm Strich war das Ganze aber eine recht schläfrige Angelegenheit. Drüben auf der anderen Bühne wurden vorsorglich Weckamine verschrieben: Mit Vini Vici gab es ekstatischen Psytrance aus Israel. (Stefan Weiss, 20.8.2022)