Krebsforschung: Neue Therapien bieten die Chance auf längeres Überleben oder sogar Heilung.

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Drei Jahreszahlen stechen in der Krebsforschung der letzten Dekaden hervor: 1994, 2011 und 2018. Sie markieren die Entwicklungsschritte einer großen, neuen Behandlungsform – der Immuntherapie. 1994 konnte James Allison an der University of California im Tiermodell zeigen, dass er die "Bremse" lösen konnte, die bei einer Krebserkrankung das Immunsystem davon abhält, sich gegen die Tumorzellen wirkungsvoll zu wehren.

Anfangs stieß die Erkenntnis nur auf zurückhaltendes Interesse bei der Pharmaindustrie. Erst 2011 kam das erste Medikament auf den europäischen Markt, das auf dem neuen Wirkprinzip basierte. Und 2018 bekam Allison den Nobelpreis für diese Revolution in der Krebstherapie – gemeinsam mit dem japanischen Immunologen Tasuku Honjo von der Universität Kyoto, der einen weiteren, ähnlichen Signalweg entdeckte.

Die Immuntherapie eröffnete einen völlig neuen Ansatzpunkt für Behandlungen. Und sie ist Teil eines neuen, vertieften Verständnisses der molekularbiologischen und genetischen Hintergründe der Erkrankungen. Das läutete ein goldenes Zeitalter der Krebsforschung ein.

"In den vergangenen zehn Jahren hat sich in den verschiedenen Bereichen der Onkologie enorm viel getan", betont Matthias Preusser, der die Klinische Abteilung für Onkologie der Universitätsklinik für Innere Medizin I der Med-Uni Wien leitet. "Auf den einschlägigen Kongressen gibt es mehrmals pro Jahr bahnbrechende neue Erkenntnisse. Der Forschungsbereich ist so umfassend und so verzweigt, dass ein Ende gar nicht absehbar ist."

"Entfesselung" der Immunabwehr

Ein paar der wichtigsten Entwicklungen: Die von Allison und Honjo erstmals gezeigte "Entfesselung" der Immunabwehr lässt sich auf mehr und mehr Erkrankungsformen anwenden. Das Tumorwachstum zunehmend vieler Krebsarten kann zudem mithilfe von zielgerichteten Therapien auf Dauer unterbunden werden.

Chemotherapeutische Wirkstoffe werden dank "Trägermolekülen" direkt zu den Krebszellen im Körper gebracht, um sie gezielt zu zerstören. In Teilchenbeschleunigern produzierte Partikel- und Ionenstrahlung wird punktgenau auf die krankhaften Gewächse gerichtet.

Weitere Behandlungsmethoden wie personalisierte Impfstoffe oder umprogrammierte Viren, die mit dem körpereigenen Immunsystem arbeiten, sind für die Zukunft absehbar. Auch operative Methoden und Diagnostik machen Fortschritte: Im Zuge einer sogenannter Liquid Biopsy kann etwa Tumor-DNA bei manchen Patienten und Tumorerkrankungen auch bereits im Blut nachgewiesen werden.

Checkpoints an den T-Zellen

Doch es liegt in der Natur der Wissenschaften, dass mit der Zahl der neuen Erkenntnisse die Zahl der offenen Fragen wächst. Das ist auch bei der Immuntherapie so. Allison und Honjo identifizierten an der Oberfläche der T-Zellen, die in der Immunabwehr eine wichtige Rolle spielen, sogenannte Checkpoints. Diese Proteine verhindern, dass sich das Immunsystem gegen körpereigene Zellen richtet.

Verschiedene Krebsformen können diese Checkpoints, die normalerweise mutierte Zellen aussortieren, gezielt hochregulieren, um sich vor dem Immunsystem quasi zu verstecken. Die von den Forschenden entwickelten Antikörper dienen als Checkpoint -Inhibitoren, die diese Immunabwehr-Bremse lösen. Dadurch werden die Krebszellen wieder erkannt und beseitigt.

"Die Immuntherapie ist ein Meilenstein in der Krebsbehandlung." Gudrun Absenger ist internistische Onkologin und an der Med-Uni Graz auf Tumorerkrankungen in Lunge und Brustraum spezialisiert.
Foto: MedUni Graz

"Die Immuntherapie ist ein Meilenstein und unterscheidet sich fundamental von allen bisherigen Methoden, Krebs zu heilen", resümiert Gudrun Absenger. Die internistische Onkologin, die an der Med-Uni Graz auf Tumorerkrankungen in Lunge und Brustraum spezialisiert ist, betont aber auch, dass es bei dieser anhaltenden Therapierevolution noch "viel Luft nach oben" gibt.

"Eines der Hauptprobleme in der Behandlung mit Checkpoint-Inhibitoren ist, dass wir noch nicht genau vorhersagen können, bei wem es hilft und bei wem nicht", erklärt die Onkologin. "Extrem viele Forschungsbemühungen beschäftigen sich deshalb damit, die Behandlung personalisierter zu machen." Das komplexe Netzwerk der Checkpoint-Proteine soll weiter enttarnt werden, um mit immer gezielteren Präparaten einzugreifen.

Immer mehr zielgerichtete Therapien

Gegebenenfalls sind Kombinationen, etwa mit der konventionellen Chemotherapie, sinnvoll – in Absengers Gebiet der Lungenkarzinome ist das oft der Fall. "Im Kontrast zur Chemotherapie haben die Checkpoint-Inhibitoren den Vorteil, dass man sie langfristig einsetzen kann. Man weist damit das Immunsystem immer wieder auf die Krebszellen hin", sagt die Onkologin.

Eine neuere Entwicklung, die Absenger in Studien begleitet hat, ist, dass die Checkpoint-Inhibitoren nun auch bei Patienten eingesetzt werden, die vor Operationen stehen: "Das Ziel ist hier, den Tumor zu verkleinern, um besser operieren zu können", erklärt die Ärztin.

Als Expertin für Lungenkarzinome hat Absenger besonders oft mit den zielgerichteten Therapien zu tun – eine weitere Wirkstoffklasse, deren Anwendungsspektrum sich in Zukunft noch maßgeblich erweitern wird. Die Behandlung zielt hier auf die krankhaften Mutationen in der DNA der Krebszelle ab.

"Bei 15 bis 20 Prozent der Patienten können wir diese Treibermutationen identifizieren. Sie bekommen regelmäßig einen Wirkstoff, der das weitere Wachstum des Tumors unterbindet", erklärt die Onkologin. "Zehn Gruppen dieser Treibermutationen können bisher unterschieden und mit 20 verschiedenen Medikamenten angesprochen werden. Die Forschung arbeitet daran, weitere zu finden." Auch wenn die Erkrankung damit nicht heilbar ist, kann sie mit diesem Ansatz doch sehr langfristig in Schach gehalten werden.

Suche nach Biomarkern

In der klinischen Praxis sucht man vor der Behandlung nach Biomarkern, die auf die Art der Mutationen und somit auf eine bestimmte Krebs-Untergruppe schließen lassen. Damit kann die Wirkwahrscheinlichkeit einer Immun- oder zielgerichteten Therapie abgeschätzt werden. Forschende versuchen systematisch, die Zahl dieser Biomarker, die Hinweise auf den Behandlungserfolg geben können, zu erweitern. Vor allem bei der zielgerichteten Therapie sind Resistenzmutationen, bei denen sich die Krebserkrankung verändert, um ihrer Bekämpfung zu entgehen, Teil des Problems.

Auch Matthias Preussers Abteilung an der Med-Uni Wien ist stark in der Forschung engagiert. Hier laufen – über die unterschiedlichsten Therapieansätze hinweg – aktuell an die 50 klinische Studien.

"Plötzlich ist eine zuvor
todbringende Krankheit gut behandelbar." Matthias Preusser ist Onkologe und leitet die Klinische Abteilung für Onkologie der Universitätsklinik für Innere Medizin I der Med-Uni Wien.
Foto: Felicias Matern

Eines der Spezialgebiete des Instituts ist die klinische Entwicklung und Erprobung sogenannter ADCs – kurz für Antibody Drug Conjugate. "ADCs sind eine geschickte Kombination von alten und neuen Ansätzen. Dabei agiert ein Antikörper-Molekül als eine Art trojanisches Pferd. Es wird von Krebszellen verschluckt. In ihnen werden dann chemotherapeutische Wirkstoffe aktiv, die an das Molekül gebunden sind und die Krebszellen zerstören", beschreibt Preusser, der auf eine weltweit führende Rolle der Med-Uni Wien in diesem Bereich verweist.

Der große Vorteil des Ansatzes liegt auf der Hand: Bei der Chemotherapie werden ja auch viele gesunde Körperzellen geschädigt. Ihr gezielter Einsatz nur in Krebszellen verhindert diese Kollateralschäden.

Hohes Potenzial

Der Wiener Onkologe gesteht der Methode hohes Potenzial für eine ganze Reihe von Krebsarten zu. Zugelassene Präparate gibt es bereits für Brustkrebs- und Lymphom-Varianten. Eine Reihe klinischer Studien – auch für Lungenkrebs – ist auf dem Weg. Eine aktuelle Studie von Preusser und Team (siehe Infobox unten "Brustkrebs") untersucht etwa die Frage, wie gut die ADCs für Tumorerkrankungen geeignet sind, die das Gehirn betreffen.

"Die Antikörper-Moleküle, die die chemotherapeutischen Wirkstoffe an ihr Ziel bringen, sind sehr groß. Da stellt sich die Frage, ob diese die Blut-Hirn-Schranke überwinden und im Gehirn wirksam werden können", beschreibt Preusser, der unter anderem auf Tumore im Gehirn spezialisiert ist. "Unsere Untersuchung bei Patientinnen mit Hirnmetastasen bei Brustkrebs zeigte, dass das sehr wohl der Fall ist."

Car-T-Zellen-Therapie

Foto: Francesco Ciccolella

Das Prinzip "Krebszellen suchen und zerstören" haben mehrere der modernen Krebstherapieansätze gemeinsam. Eine noch sehr junge Entwicklung ist etwa die sogenannte Car-T-Zellen -Therapie. Erst seit 2019 wird die sehr aufwendige Methode, die auf spezialisierte klinische Zentren angewiesen ist, in Österreich routinemäßig angewendet.

Eingesetzt wird sie derzeit vor allem bei Patienten mit bestimmten Lymphom- und Leukämiearten. Bei dem Ansatz werden die T-Zellen des Immunsystems aus dem Blut der Patienten entnommen und gentechnisch so verändert, dass sie einen bestimmten Rezeptor an der Oberfläche der Krebszellen erkennen. Danach werden sie dem Körper erneut zugeführt, um ihre Aufgabe – die Zerstörung von Tumoren – zu erfüllen.

"Die Methode zeigt schöne Therapieerfolge", ist Preussers Einschätzung. "Für die kommenden Jahre besteht die Hoffnung, dass der Ansatz auch vermehrt für solide Tumore – etwa im Magen-Darm-Trakt – zum Einsatz kommen kann." Die Schwierigkeit bei der Adaptierung für weitere Krebsarten liegt in der Entwicklung der maßgeschneiderten "Sensoren" für die T-Zellen, die sie an den Krebsrezeptoren andocken lassen.

Tumorimpfung

Zu den Therapievarianten, die große Zukunftshoffnungen darstellen, aber noch weit von regulären Anwendungen entfernt sind, zählt dagegen die therapeutische Tumorimpfung. Hauptdarsteller ist eine Technologie, die im Zuge der Covid-Pandemie zu einiger Berühmtheit gelangt ist – mRNA-Impfstoffe.

Im Fall von Corona wurde mit der mRNA der Bauplan für ein Oberflächenmolekül des Virus in die Körperzellen eingeschleust, um eine Immunreaktion hervorzurufen. Bei einer Tumorimpfung wird das Immunsystem dagegen auf ein bestimmtes, für eine individuelle Krebserkrankung typisches Protein aufmerksam gemacht. Zellen, die dieses Protein tragen, werden bekämpft.

Das enorme Spektrum der modernen Behandlungsformen birgt eine Vielzahl neuer Kombinationsmöglichkeiten und ordnet sich zu immer umfassenderen Therapieplänen. Krebs ist nach wie vor eine potenziell tödliche Krankheit. Doch die Überlebenszeiten werden länger, die Heilungschancen in vielen Fällen größer. Die Geschwindigkeit der Entwicklungen stellt durchaus auch das gesamte medizinische Personal in Krankenhäusern und im niedergelassenen Bereich vor schwierige Aufgaben.

"Es ist eine große Herausforderung, up to date zu bleiben und neue Entwicklungen so rasch wie möglich ans Krankenbett zu bekommen. Doch die ständige Veränderung macht die Arbeit sehr lohnend. Plötzlich ist eine Krankheit, die gerade noch als todbringend galt, gut behandelbar", sagt Preusser. "Auch für die Ärztinnen und Ärzte ist es sehr bewegend, nun viel wirksamer helfen zu können." (Alois Pumhösel, Pia Kruckenhauser, CURE, 4.9.2022)