Die Antwort auf die Frage braucht Zeit. Auch wenn sie manchmal schon selber darüber nachgedacht hat. Vera richtet den Blick zur Decke, dann zum Boden. Eine halbe Minute vergeht. Und noch ein paar Sekunden. Dann sagt sie: "Ich würde ihm gar nichts sagen. Ich würde ihn töten."

Der Ton, in dem sie diese Sätze spricht, und ihr Gesichtsausdruck lassen keinen Zweifel, dass sie es ernst meint. Ob ihr die potenziellen Folgen klar sind, wenn sie mit ihnen in der Zeitung zitiert wird? "Ja." Wieder eine Pause. "Es ist mir egal. Das ist, was ich tun würde." Die Frage hatte gelautet: Was würde sie dem russischen Präsidenten Wladimir Putin sagen, wenn er jetzt bei der Tür hereinkäme?

Vera, die Journalistin.
Foto: Olena Kontsevych

Vera ist 31. Seit acht Jahren lebt sie in der südwestukrainischen Hafenstadt Odessa, wo sie als Reporterin arbeitet. "Ich habe daheim Journalismus studiert. Nach dem Abschluss habe ich bei einem Fernsehsender gearbeitet. Odessa habe ich schon immer geliebt. Ich kannte die Stadt aus den Sommerferien mit meinen Eltern. Wie viele Russen meiner Generation. Es war hier immer schon freier als zu Hause. Deshalb bin ich hierher gezogen. Heute covere ich Kulturevents und Politik genauso wie Flüchtlingsgeschichten."

Nie wieder zurück

Ihr Reisepass weist Vera als Bürgerin jenes Staates aus, der gegen den anderen, in dem sie lebt, seit 2014 Krieg führt. Die russische Invasion der Ukraine im Februar dieses Jahres hat sie und ihre Landsleute endgültig zu Menschen gemacht, die zwischen allen Stühlen sitzen. "Ich war erst ein paar Monate hier, als Russland die Krim und den Donbass überfallen hat", erzählt Vera, die in Soltsneeo, einem südwestlichen Distrikt von Moskau, aufwuchs, und schüttelt den Kopf. "Was soll ich sagen? Ich habe damals nicht verstanden, was passiert. Und warum heute, das verstehe ich noch weniger. Diese Leute sind verrückt. Ich will nie wieder nach Russland zurückkehren. Ich schäme mich dafür, Russin zu sein." Leichter macht diese Erkenntnis ihr Leben in der Ukraine im Sommer 2022 nicht. Da ergeht es ihr ähnlich wie vielen ihrer Landsleute, die heute im freien Teil des Landes festsitzen und weder nach vor noch zurück wollen – oder können.

Laut der staatlichen Migrationsagentur in Kiew belief sich die Zahl der russischen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger, die vor Beginn der Invasion die Ukraine als ihren Hauptwohnsitz registrieren ließen, auf 175.000. Die Dunkelziffer dürfte um ein Vielfaches höher sein. Bis vor Kurzem bestand für Russen, die in die Ukraine kamen, keine Visapflicht. Die Befreiung von Letzterer hatte seit der Unabhängigkeit des Landes von der Sowjetunion 1991 Bestand und wurde erst im Juni abgeschafft.

Kritik unerwünscht

Wie die Journalistin Vera sprach Anastasia, als sie vor zwei Jahren nach Odessa zog, kaum ein Wort Ukrainisch. Ein Problem stellte das für die heute 26-Jährige nie dar. Die junge Frau, die von ihren Freunden nur Nastia genannt wird, ist in einem Innenstadtbezirk von Moskau geboren und aufgewachsen. Die Schauspielerin ist Absolventin der so renommierten wie elitären Russischen Akademie für Theaterkunst. Mit dem Gedanken, dass sie ihre Heimatstadt vielleicht nie mehr wiedersehen wird, hat sie sich nach eigenem Bekunden längst abgefunden. Nachdem sie am Morgen der Invasion die Truppen des Landes, dessen Bürgerin sie ist, auf Facebook scharf kritisiert hatte, standen daheim in Moskau ein paar Tage später zwei Männer vor der Tür ihrer Mutter.

Anastasia, die Schauspielerin.
Foto: Olena Kontsevych

Weil sie sich nicht ausweisen konnten, weigerte die sich, die Männer hereinzulassen. Daraufhin traten sie die Tür ein, setzten sich in die Küche und machten ihr klar, dass sie so lange nicht gehen würden, bis sie ihre Botschaft angebracht hätten. Im Rahmen eines "informellen Gesprächs" machten sie ihr klar, dass gegen ihre Tochter wegen "staatsfeindlicher Umtriebe" ermittelt, und, wenn sie so weitermache, Anklage gegen sie erhoben werde.

"Zum Glück ist meine Mutter eine starke Frau. Wir reden oft, und sie versteht mich voll und ganz. Auch mein Vater steht hinter mir. Auch wenn sie ihm mittlerweile das Leben schwer machen. Er ist Mitbesitzer einer Kaffeefabrik, und sie haben ihm gedroht, sein Geschäft zu zerstören. Aber er gibt mir dafür keine Schuld. Mit den Postings werde ich deshalb nicht aufhören."

Eingebracht hat Nastia das mittlerweile einen offiziellen Haftbefehl. Sollte sie die Grenze zu Russland überschreiten oder in die Fänge russischer Soldaten in der Ukraine geraten, drohen ihr bis zu 15 Jahre Gefängnis. Ihren Traum von der Schauspielkarriere, an der sie seit ihrer Ankunft in Odessa bastelt, will sie sich nicht kaputtmachen lassen. Nastia zählt zum fixen Ensemble von Perron No. 7, dem einzigen Theater der Ukraine, das mit interaktiven Inszenierungen arbeitet. "Die Leute hier sind meine neue Familie, meine Freunde", sagt Nastia. Und was ist mit den alten, die in Russland leben? "Es gibt ein paar, die den Krieg genauso verurteilen wie ich. Aber sie halten den Mund, weil sie Angst haben. Aber es gibt auch viele, die wirklich glauben, was ihnen Putin erzählt."

Keine Diskriminierung

Was viele der heute im freien Teil der Ukraine lebenden Russinnen und Russen eint: Sie können sich nicht erinnern, in der Wahlheimat auch nur einmal wegen ihrer Herkunft oder ihrer Sprache diskriminiert worden zu sein. Selbst die Invasion scheint daran nichts geändert zu haben. Seit Kriegsausbruch zu diesem Thema durchgeführte Umfragen ergeben ein eindeutiges Bild: Während die Ukrainer der russischen Regierung die Schuld an ihrem Leid geben, weigert sich die überwältigende Mehrheit bisher beständig, jenen Menschen im eigenen Land, die Russisch sprechen oder sich Russland kulturell näher fühlen als der Ukraine, mit Ersteren in einen Topf zu werfen. Eine Tatsache, für die viele heute hier lebende Russen – auch angesichts des kolonialen Erbes des Zarenreichs und der Sowjetunion – dankbar sind.

Wladimir, der Radiomoderator.
Foto: Olena Kontsevych

"Ich bin in den Siebzigern und Achtzigern in Leningrad (seit 1991 Sankt Petersburg, Anm.) zur Schule gegangen. Wenn wir dort etwas über die Ukraine gelernt haben, gab es eine klare Hierarchie: ‚Wir Russen sind die Herren, und die Ukrainer sind unsere kleinen Brüder.‘ Das wurde Generationen von Menschen in der Sowjetunion eingetrichtert. Diese Haltung pflegen die meisten leider bis heute", sagt Wladimir. Der durchtrainierte Mann, der sich in Odessas Nobelvorort Arkadia ein Single-Apartment mit einem Cockerspaniel und einer Orientalisch-Kurzhaar-Katze teilt, ist nicht nur deutlich älter als die Journalistin Vera und die Schauspielerin Nastia. Er lebt auch schon viel länger als sie in der Ukraine.

Der heute 55-Jährige schloss in seiner Geburtsstadt Sankt Petersburg ein Medizinstudium ab, bevor er, seine Mutter und seine Schwester Anfang der Neunziger nach Deutschland auswanderten. In Düsseldorf eröffnete Wladimir eine kleine, erfolgreiche Praxis für Physiotherapie, heiratete, bekam zwei Töchter. 2008 fand er sich nach eigenen Worten in einer "Midlife-Crisis" wieder, die im Umzug in die Ukraine mündete.

"Zugegeben – mein Ukrainisch ist nicht das beste. Aber Odessa ist nicht die Ukraine. Es ist ein eigener Planet." Auch wenn er den Kontakt zu seinen alten Freunden und Studienkollegen in St. Petersburg bis heute nicht verloren hat und sich den kulturellen Traditionen Russlands enger verbunden fühlt als den genuin ukrainischen: Eine Rückkehr wäre für ihn nicht infrage gekommen. Wladimir ist nicht nur Russe, sondern auch Jude.

Keine Illusionen

"Ich bin Kosmopolit. Wenn die Russen morgen hier einmarschieren, hätte ich wahrscheinlich keine Probleme. Okay, vielleicht doch, weil ich mich mittlerweile zu meiner Homosexualität bekenne und Putin keine Schwulen mag. Ich würde jedenfalls mit meinem russischen Pass wedeln, und dann würden sie mich wahrscheinlich in Ruhe lassen."

Nichtsdestotrotz teilt Wladimir, der auch als Radiomoderator arbeitet, mit seinen hier lebenden Landsleuten wie mit anderen Migranten aus der Ex-Sowjetunion die Hoffnung, dass es dazu nie kommen wird. Bei allem Optimismus macht er sich keine Illusionen darüber, dass es dann mit der Freiheit, wie er sie lebt, mit einem Schlag vorbei wäre. (Klaus Stimeder aus Odessa, 23.8.2022)