Runde eins: Ja, es gibt hier ein "Falsch" und ein "Richtig". Ja, sogar hier, an diesem Ort von perfekter Symmetrie, präziser Gleichmäßigkeit und absoluter Schönheit. Aber das verstand Robert erst, als er eines Tages eingeladen wurde, doch mit der Gruppe, die ihm da entgegenkam, mitzulaufen. Nicht so falsch, wie er es gerade täte, sondern in der "richtigen" Richtung: im Uhrzeigersinn nämlich.

Robert staunte zwar, war aber neugierig. Er drehte um, lief mit und stellte fest, "dass es tatsächlich einen Unterschied gibt".

Obwohl die Strecke, die Runde, die er hier schon tausende Male gelaufen war (wenn auch in der falschen Richtung), im Grunde die gleiche ist: 300 Meter sanft bergauf. Ein 90-Grad-Schwenk. 100 Meter bretteleben quer. Schwenk. 300 Meter sanft bergab. Schwenk. Wieder 100 Meter flach quer. Nächste Runde. "Ja", lacht Robert, "das ist das Schöne an der barocken Architektur: Sie folgt Regeln und Gesetzen." Und dennoch gibt es in ihrer Symmetrie dann richtig und falsch. Aber dazu später mehr ...

Foto: Tom Rottenberg

Runde zwei: Robert holt Luft. Bergauf braucht er seine Energie fürs Laufen, nicht fürs Erzählen und Erklären. Bergauf gibt Robert jetzt Gas. 300 Meter sind es von der Rampe in der Mitte des Parks bis hinauf zum Schloss.

Die rennt Robert jetzt. Nicht nur einmal: "Zehnmal" lautet die Vorgabe – und immer gleich. Das Spiel mit Zahlen, Regeln und Symmetrie im barocken Umfeld könnte zwar aus einem Peter-Greenaway-Film stammen, hat hier aber einen anderen Ursprung: die Trainingslehre. Intervalltraining. Das bedeutet oft: eine fixe Distanz mehrfach und konstant. Nicht im Komforttempo – sondern so, dass man beim dritten Mal grinst, beim fünften Mal schnauft, beim siebten Mal flucht, beim achten Mal kämpft und das zehnte Mal nur schafft, weil der Kopf mächtiger als die Beine ist. Wenn es bergauf geht, sind das "Hügelintervalle".

Foto: Tom Rottenberg

Runde drei: Intervalle und Hügelintervalle kann man überall laufen. Sogar auf der Donauinsel, im Prater, am Donaukanal finden sich Rampen, die gleichmäßig bergauf führen. In Schönbrunn und der Wiener City geht das sogar mit Weltkulturerbe-Ambiente: zwischen Albertina und Burggarten etwa. Oder am Mölkersteig (Zusatzchallenge "Kopfsteinpflaster").

Aber nirgendwo – und ich behaupte: weltweit – lässt sich dieses läuferische Pendant zu Catulls Wechselgesang von "odi et amo" schöner, intensiver, pracht- und stimmungsvoller zelebrieren als hier: im barocken Schlosspark des Belvederes – einem der schönsten Gärten der Welt.

Foto: Tom Rottenberg

Runde vier: Laufen ist hier immer toll. Doch es gibt eine Zeit, in der es ganz besonders, fast magisch ist: am frühen Morgen. Auch wegen der noch ausbleibenden Menschenmassen. Aber viel mehr wegen des Lichtes und der Stimmung: wenn die ersten Sonnenstrahlen über und durch die Baumreihen am Parkrand blitzen. Wenn das waagrecht einfallende Licht zuerst die Details der Fassaden, dann Statuen und dann Beete und Hecken wachstreichelt. Wenn die gerade blasse, noch schlafende Stadt unter dem Schloss zu leuchten beginnt. Wenn sie bis zu den Hügeln des Wienerwaldes durch diesen Kuss so strahlt, dass man sich fragt, wieso Canaletto dieses perfekte Bild noch "nachbessern" musste.

Dann ist das ein Gänsehautmoment. Jedes Mal. Ein Augenblick – im Wortsinn –, den man nicht kaufen kann: Man muss nur da sein. Weil man hier läuft.

Foto: Tom Rottenberg

Runde fünf: Das Belvedere – der Einfachheit halber bleibe ich bei diesem Begriff, auch wenn es hier nur um die Parkanlagen rund um Johann Lucas von Hildebrandts für Prinz Eugen zwischen 1714 und 1716 errichtete Schlossanlage geht – einen Laufgeheimtipp zu nennen wäre reichlich skurril.

Dennoch: Wenn Sie einmal mit Gästen aus anderswo in Wien laufen, beginnen Sie hier. Verraten Sie vorher nichts – und kommen sie von oben, vom Schweizergarten. Schauen sie, was in den Gesichtern der Besucher passiert, wenn sie zum ersten Mal "den Canaletto" sehen.

Ja eh: Mit Hügelintervallen hat das nichts zu tun. Auch weil die, die sich jeden Freitagmorgen hier treffen, um sie gemeinsam zu laufen, vieles sind – nur keine Wien-Neulinge. Im Gegenteil: Mehr Inside-Knowledge über die schönsten und besten Laufrouten und Laufspots der Stadt als in dieser Gruppe dürfte in Wien kaum zu finden sein.

Foto: Tom Rottenberg

Runde sechs: Das hat einen Grund. Und der einen Namen: Stefan Langer. Der laufnarrische Wiener Rechtsanwalt ist regelmäßigen Lesern und Leserinnen dieser Kolumne kein Unbekannter. Langer ist das Mastermind des größten wöchentlichen und für jedermensch offenen Wiener (gratis) Sonntagslauftreff, des Weekly Longrun. Hinter dem steht zwar ein Laufschuhshop (We Move), aber er steht und fällt mit Langers Laufenthusiasmus.

Außerdem kennt Wiens Laufcommunity Langer als Kopf der Tram-Challenge- Wien-Erkundungsläufe.

Weil ihm das aber noch nicht genug Laufgesellschaft ist, bittet der Jurist seit vier Jahren jeden Freitag zu den "Belvedere Hills" – den Canaletto-Hügelintervallen.

Foto: Tom Rottenberg

Runde sieben: Langer selbst läuft schon länger hier – bei jedem Wetter, das ganze Jahr – und am liebsten in der Früh.

Zum einen, weil der "Spin", mit dem ein Tag beginnt, oft bis in den Abend hält. Zum anderen, weil Langer alles andere als zu wenig Arbeit hat – und der Tag nicht endlos dehnbar ist.

Vor allem aber, weil in der Früh keine Woche des Jahres der anderen gleicht. Das Licht. Die Vegetation. Die Geräusche und die Gerüche. Die Luft. Probieren Sie es selbst: Laufen Sie durchs Belvedere und hören Sie dabei Vivaldis "Vier Jahreszeiten". So abgeschmackt das so hingeschrieben auch klingen mag: Sie werden staunen, wie anders sich jedes Eck jedes Mal anfühlen wird. (Vermutlich funktioniert das mit Metallica eh auch – nur passt das Bild halt nicht.)

"Am schönsten", sagt der laufende Anwalt, "ist es hier im Winter: Der Park ist nicht beleuchtet. Das Schloss, seine Fenster, schon. Vor Sonnenaufgang ist das unglaublich."

Foto: Tom Rottenberg

Runde acht: Die Idee, hier im Rudel zu laufen, war dann naheliegend. Und ging auf. Es sind bis zu 25 Läuferinnen und Läufer, die da jeden Freitag um sieben Uhr morgens an der Erste Bank getauften Parkbank bei der Rampe in der Mitte des unteren Gartens an der östlichen Mauer warten – um gemeinsam zu starten.

Die Gruppe ist bunt, divers – und nicht nur international, sondern sogar exotisch: Von der 26-jährigen Chemikerin bis zum über 71-jährigen Laufurgestein streckt sich das Generationenspektrum. Von Norwegen bis Mexiko, von den Färöer-Inseln, aus der Slowakei und den USA, ja sogar aus Floridsdorf und Attnang-Puchheim sollen manche "Hügler" und "Hüglerinnen" kommen.

Foto: Tom Rottenberg

Runde neun: Obwohl hier langsame Amateure neben ehrgeizigen Wettkampfläuferinnen starten, gilt immer ein Kernsatz des gemeinsamen Trainierens: "Gruppe hilft." Weil Gemeinschaft motiviert – und man nie ganz allein ist.

Auch wenn jeder und jede bergauf das eigene Tempo rennt, sieht, trifft und findet man sich und einander unterwegs.

Trabt die Pausen – quer, bergab, quer – locker und langsam gemeinsam. Um wieder zu Atem zu kommen. Um zu plaudern. Aber auch, um den Ausblick zu genießen.

Solange das geht. Denn spätestens beim siebten Bergauf-Antritt denkt niemand mehr an Prinz Eugen, die Herren Hildebrand und Girard (den Garten hat nämlich Letzterer entworfen), Canaletto, die Österreichische Galerie oder den Staatsvertragsbalkon. Da hadert man. Fragt sich, wieso diese elenden 300 Meter mit jedem Mal länger werden. Und welcher Teufel die Landschaft gerade aufkantet: Die war anfangs doch nie und nimmer so steil wie jetzt …

Foto: Tom Rottenberg

Runde zehn: Warum man sich das antut? Wegen der Abwechslung zum normalen, alltäglichen Gerenne. Auch weil einmal im Monat dann – nach der zehnten Runde – die Erste Bank zum improvisierten Frühstückssalon wird.

Aber auch, weil "Hügeln" trainingstechnisch auch für Normalo-Flachlandlaufende sinnvoll ist: "Hügelintervalle schulen den Abdruck und sind andererseits auch kräftigend", erklärt (mein) Trainer Harald Fritz. Er hängt jedoch ein "Aber" dran: "Wöchentlich würde ich sie nicht machen, aber immer wieder mal macht es Sinn." Manchen Leuten würde er von Hügelintervallen abraten: "Bei Problemen mit der Achillessehne (bergauf) oder Knie und Gelenken (bergab)."

Freilich: Lockeres Canaletto-Laufen (oder Spazieren) kann nicht falsch sein. Schon gar nicht in der Früh.

Foto: Tom Rottenberg

Cooldown: Womit wir wieder am Anfang wären. Der Frage, ob es bei einem Zehnrundenlauf durch einen perfekt-gleichmäßig angelegten barocken Schlosspark eine richtige und eine falsche Richtung geben kann.

Fakt ist: Es kann.

Die Antwort hängt mit der Tageszeit zusammen. Und der Sonne:

Denn wer im Belvedere Runden im Uhrzeigersinn läuft, läuft bergauf im Schatten.

Und das macht, wenn man sich richtig "die Kante gibt", nicht nur im Hochsommer tatsächlich einen Unterschied.

Trotz aller Symmetrie. (Tom Rottenberg, 23.8.2022)

Die "Belvedere Hills" beginnen jeden Freitag um Punkt sieben Uhr in der Früh. Kosten- und verpflichtungslos. Wer da ist, ist da – und jeder und jede ist willkommen.


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