Luxusimmobilien in bester Lage, ein moderner öffentlicher Nahverkehr, weitläufige Boulevards, neue Touristenattraktionen, saftig grüne Parks und gläserne Hochhausfassaden an den Nilufern so weit das Auge reicht: Diese 2008 vorgestellte Zukunftsvision für Ägyptens Hauptstadt – kurz "Cairo Vision 2050" genannt – war zwar kein offizieller Masterplan für die Transformation der Metropolregion Kairo, sondern eher eine Auswahl an irrsinnig anmutenden Projektideen. Die vom Regime vermittelte Botschaft war aber unmissverständlich: Kairo solle radikal umgestaltet und in eine moderne Weltstadt für Investoren, Touristen und Vermögende verwandelt werden.

Treibende Kraft hinter diesem auf entfesselte Immobilienspekulation setzenden Vorstoß war kein Geringerer als Gamal Mubarak, Sohn von Staatspräsident Hosni Mubarak und dessen designierter Nachfolger. Doch die Revolution 2011 und der Sturz des seit 30 Jahren regierenden Autokraten machten den ambitionierten Plänen einen Strich durch die Rechnung. Die "Vision" verschwand in der Schublade. Vorerst.

Wohnsilos und Autobahnen prägen das neue Kairo.
Foto: Reuters/Dalsh

Bauboom

Heute, rund 15 Jahre nach Vorstellung der "Vision 2050", ist Kairo kaum wiederzuerkennen. Der anhaltende Bauboom hat die Stadt transformiert und verwandelt ganze Bezirke immer wieder in regelrechte Baugruben. Betonmischer und Baukräne sind allgegenwärtig. Unzählige neue Autobahnen fräsen sich heute zusätzlich durch das dicht besiedelte Kairo. Luxusimmobilien und neue Brücken sprießen wie Pilze aus dem Boden.

Hoher Preis

Der mit Volldampf vorangetriebene Bauwahn hat inzwischen fast jede Ecke der Millionenmetropole erreicht. Unmittelbar nach seiner Machtergreifung 2013 hatte Ägyptens Präsident Abdel Fattah al-Sisi die "Vision 2050" aus dem Schrank geholt, entstaubt und recycelt nun in atemberaubendem Tempo elementare Teile des Konzepts. Doch der Preis für die verordnete Zwangsmodernisierung ist hoch. Kairo sei inzwischen ein "Labor für einige der aggressivsten städtebaulichen Eingriffe in der Geschichte der Stadt" geworden, so die ägyptische Internetzeitung "Mada Masr" 2021. Slogans wie "Entwicklung" und "Fortschritt" seien dabei nur ein Deckmantel für die gewaltsame Umgestaltung der Stadt für andere Zwecke.

Eine Hochstraße im Bezirk Omraniya führt direkt an Wohngebäuden vorbei.
Foto: AFP/Desouki

Und in der Tat: Die von al-Sisis Militärregime kontrollierten Staats- und Privatmedien verlesen jede Woche neue Regierungserklärungen über in Rekordzeit "entwickelte" Infrastrukturprojekte oder in neue Sozialwohnungen umgesiedelte Familien aus den zahlreichen informellen Armenvierteln Kairos und anderer Städte. Schon 2016 hatte der mit eiserner Faust regierende Präsident verkündet, landesweit mehr als 200.000 Familien umsiedeln zu wollen. 200.000 weitere sollen nun folgen, so die Regierung.

Die Bewohner haben eine hervorragende Aussicht auf die Straße, jedenfalls ab einem gewissen Stockwerk.
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Beispiellose Massenumsiedlungen

Mit Infrastrukturprojekten oder Armutslinderung legitimierte Zwangsumsiedlungen sind in Kairos postkolonialer Geschichte ebenso wenig neu wie Gentrifizierungsprozesse. Das Ausmaß, in dem in den letzten Jahren in und um Kairo herum Menschen umgesiedelt und ganze Stadtviertel abgerissen wurden, um Platz für Straßen oder Luxuswohnraum zu schaffen, ist jedoch beispiellos.

Alte und neue Megalomanie auf einem Bild.
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"Schätzungen zufolge wurden zwischen 2011 und 2021 allein im Großraum Kairo mehr als 220.000 Menschen vertrieben. Rund 15.000 Gebäude wurden abgerissen", erklärt ein ägyptischer Stadtplaner dem STANDARD und bezieht sich dabei auf von der Regierung veröffentlichte Kartierungsdaten von als "unsicher" deklarierten Gebieten, deren Abriss offiziell angekündigt worden war. Die Regierung sei dabei, das Herz Kairos von jedweder Armut zu säubern, meint er.

Neuordnung

Tatsächlich treiben Behörden, staats- und militäreigene Firmen und private Baukonzerne Hand in Hand und mit Nachdruck eine großangelegte Neuordnung der Metropolregion Kairo voran. Der Stadtkern und die umliegenden Bezirke werden Schritt für Schritt in ein "Open-Air-Museum" für Touristen und Vermögende konvertiert. Auf einer horizontalen und einer vertikalen die Stadt durchziehenden Linie lässt das Regime teils sukzessive, teils mit dem Vorschlaghammer abreißen, umsiedeln, verkaufen und für meist exorbitante Summen neu bauen: von der Nilinsel Warraq im Norden – einst die Kornkammer Kairos – bis zu den Überresten der historischen Siedlung Fustat im Süden und von den Pyramiden in Gizeh westlich des Nils bis zu der zum Unesco-Weltkulturerbe gehörenden Kairoer Altstadt und den Friedhöfen der "Stadt der Toten" im Osten.

Kairo wird zum "Open-Air-Museum"

Downtown, die im 19. Jahrhundert nach dem Vorbild von Paris erbaute Innenstadt, soll zwar nicht abgerissen, nach Jahrzehnten des schleichenden Verfalls aber wieder zum Dreh- und Angelpunkt für zahlungskräftige Klientel werden. Die Aufwertung des Viertels wird aber nicht nur aus stadtplanerischen Gründen von Regime und privaten Investoren vorangetrieben, sondern war nach al-Sisis Machtübernahme vor allem politisch motiviert, galt der Bezirk doch als "Hinterhof der Revolution". Heute gibt es hier keine regimekritischen Proteste mehr. Es wimmelt stattdessen von Uniformierten und Spitzeln in Zivil. Überwachungskameras sind omnipräsent. Der Tahrir-Platz, das Epizentrum des Aufstands von 2011, dient heute als Verkehrsknotenpunkt und Propagandabühne für das Regime.

Bürotürme

Andere Viertel haben weniger Glück und werden nicht gentrifiziert, sondern komplett abgerissen. Erst 2017 wurde das Maspero-Dreieck nördlich von Downtown nach rund 40-jährigem Widerstand der noch verbliebenen Anwohner sprichwörtlich dem Erdboden gleichgemacht. Während mehrere tausend Menschen in neue Sozialwohnungen am Stadtrand zwangsumgesiedelt wurden, erheben sich in Maspero heute neu errichtete Bürotürme in bester Innenstadtlage.

Bei Kairo wird die "New Administrative Capital" aus dem Boden gestampft.
Foto: AFP/Desouki

"Entwicklung"

Auch die Tage von Warraq sind gezählt. Die Regierung hatte bereits 2015 die "Entwicklung" der rund 90.000 Einwohner zählenden Insel angekündigt, sich aber zunächst an den protestierenden Anwohnern die Zähne ausgebissen. 2019 wurde unter Federführung der Armee eine monströse Autobahnbrücke über den südlichen Teil der Insel gebaut, während die Regierung Ende Juli bekanntgab, die gesamte Insel zubauen zu wollen. Weitere Zwangsumsiedlungen sind programmiert.

Unesco-Proteste

Bereits in vollem Gange sind derweil die Arbeiten in Fustat und den mit Monumenten übersäten Friedhöfen der "Stadt der Toten" an den Rändern der Altstadt. In Fustat erhebt sich ein neues, schon im Zuge der "Vision 2050" geplantes Museum samt nigelnagelneuer Zufahrtsstraßen und Brücken. In umliegenden Vierteln wurden dafür genauso Häuser abgerissen wie in der Stadt der Toten unzählige Gräber Platz machen mussten für neue mehrspurige Hochstraßen. Proteste der Unesco gegen die für das Weltkulturerbe schädlichen Bauprojekte verhallten bisher ungehört.

Auch olympiataugliche Sportstätten werden gebaut. Das Stadion am rechten Bildrand soll mehr als 93.000 Sitzplätze fassen.
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Zehntausende für Ringautobahn vertrieben

Ein Architekt, der anonym bleiben will, merkt derweil an: Maspero, Warraq, Fustat und die Stadt der Toten seien nur die berühmten Bezirke, in denen Massenvertreibungen durchgeführt werden. Es gebe unzählige weitere betroffene Gebiete, in denen vor allem wegen Straßenbauprojekten Menschen zwangsumgesiedelt werden. Allein für die Verbreiterung der Ring Road, einer monströsen um Kairo herumführenden Stadtautobahn, seien zehntausende Menschen vertrieben worden. Kairo reiht sich heute nahtlos ein in die lange Liste jener Städte, in denen eine autoritäre Modernisierungspolitik auf dem Rücken der Einkommensschwachen vollzogen wird. (Sofian Philipp Naceur, 24.8.2022)