Porträt des edlen Apachen als sehr junger Mann: "Der junge Häuptling Winnetou" (Mika Ullritz) in der (europäischen) Prärie bei der Arbeit.

Foto: Constantin

Aus den aktuellen Verlautbarungen des Ravensburger-Verlags tönt lautes Zähneknirschen. Zwei Begleitmedien zu Der junge Häuptling Winnetou hat das oberschwäbische Haus überfallsartig aus seinem Sortiment genommen, ein "Buch zum Film" sowie, für geringfügig Kleinere, ein "Erstlesebuch zum Film". Bei der Kinoversion handelt es sich um ein Fortspinnen von Karl Mays insgesamt drei-, in Wahrheit vierbändiger Winnetou-Saga. Die Vorlage singt in Romanform das Hohelied auf den edlen Mescalero-Apachen, der, auf halbem Weg in die ewigen Jagdgründe, Manitu fahren lässt und gegenüber seinem Blutsbruder "Scharlie" lieber seinen Glauben an Jesus Christus bekennt.

Der Verlag räumt auf Instagram nicht nur den Erhalt "vieler negativer Rückmeldungen" ein. Ravensburger habe, trotz "intensiver Beschäftigung mit Themen wie Diversität und kultureller Aneignung", ohne jede Absicht "die Gefühle anderer verletzt".

Tatsächlich bekennt sich die hochseriöse Spielefirma der "Verbreitung eines romantisierenden Bildes mit vielen Klischees". Ravensburger schreddert jetzt ein Puzzle. Obendrein zieht man ein Sticker-Heft aus dem Verkehr. Der Stoff rund um Winnetou als Dreikäsehoch sei "weit entfernt von dem, wie es der indigenen Bevölkerung tatsächlich erging". Vorauseilende Hasenfüßigkeit? Inzwischen beklagt die IG Autorinnen Autoren "verlegerische Selbstzensur".

Aufregung in Social Media

In der öffentlichen Wahrnehmung neigen Kinderfilme in aller Regel dazu, nicht rezipiert zu werden. Wer Kinder hat, geht mit ihnen ins Kino und leidet still. Sind sie dann schon selbstständig und im Star Wars-Alter oder machen Mutproben mit Zombiefilmen, hört sich das mit dem Kinderkram für Erwachsene ohnehin auf. Insofern ist es erstaunlich, dass es bezüglich des deutschen Kinderfilms Der junge Häuptling Winnetou überhaupt zu einer Aufregung in Social Media kommt. Immerhin hatte ihn die deutsche FSK zum Kinostart als "besonders wertvoll" eingestuft.

Tatsächlich gewinnt man mit den Erzählwerken des Volksschriftstellers Karl May (1842–1912) identitätspolitisch keinen Blumentopf. Die Mär rund um Häuptling Winnetou – den meisten durch die Jugo-Karst-Verfilmungen mit Pierre Brice bekannt – markiert den Fluchtpunkt einer weit ausgreifenden Reise im Kopf. Das Amerika "Old Shatterhands", in dem ein deutscher Abenteurer an der Seite seines "roten" Blutsbruders auf ledrigen Knien durch die Prärie rutscht und dabei reihenweise Bösewichten den Garaus macht, hat es in der von May kolportierten Form niemals gegeben. Gerade Trivialliteratur ist oft reine Fiktion. Es sei denn in Unterhaltungszeitschriften des Zweiten Deutschen Kaiserreichs.

In ihnen, die so erbauliche Titel wie Deutscher Hausschatz und Der Gute Kamerad trugen, fand May – ein Ex-Zuchthäusler, Kleptomane und Hochstapler – das Publikum für seine papierenen Ausbrüche aus der beengenden Welt der sächsischen Provinz.

Exotischere Weltgegenden

May hatte seine Schreibroutine durch das Abfassen von Hintertreppenromanen gewonnen (Waldröschen). Erst von dort arbeitete sich der gescheiterte Lehrer in exotischere Weltgegenden vor.

Geraume Zeit behauptete der Mann aus Radebeul von sich, 1200 Sprachen und Dialekte zu beherrschen. Er stiefelte im Cowboy-Outfit durch Hörsäle und renommierte mit der Politur eigens angefertigter Büchsen ("Bärentöter"). Alles Marketing-Gags: Erkundigungen vor Ort zog Karl May erst ein, als von seinen Abenteuerromanen bereits hunderttausende Exemplare unter das schmökernde Volk gebracht waren. Der Literaturwissenschafter Josef Nadler attestierte dem May’schen Schrifttum wohl nicht zu Unrecht eine "koloniale Seelenlage". Das wilhelminische Deutschland war im Wettkampf um Rohstoffgebiete und Absatzmärkte gegenüber anderen Großmächten ins Hintertreffen geraten.

Die May-Lektüre schien geeignet, den Hunger nach Kolonien zu stillen – und dabei das Fernweh zu kurieren. Das breite Publikum erfuhr obendrein, dass in den Jagdgründen der indigenen Bevölkerung Nordamerikas dieselbe schlichte Herzenseinfalt waltete, die aus deutschen Reichsbürgern folgsame Untertanen machen sollte. Gewiss eine unzulässige, sogar kränkende "Romantisierung".

Soundtrack zur Industrialisierung

May lieferte einst den Prosa-Soundtrack zur Industrialisierung. Beim Friedenspfeife rauchen, beim Spähen, Galoppieren und Fährtenlesen erprobten die Menschen in der Fantasie einmal noch jene Fähigkeiten, die ihnen im Alltag, in Heim und Fabrik gründlich abgewöhnt wurden. Die Aufhebung jeder rein geografischen Distanz, durch die Totalisierung des Krieges 1914–1918 erreicht, musste der Pazifist May nicht mehr erleben.

Erst irrlichternde Autorenkollegen wie Arno Schmidt nahmen May in den 1960ern schärfer in den Blick. Auf Basis ihm unbewusst gebliebener "Fehlleistungen" soll May Topografien von entwaffnender Körperlichkeit entworfen haben, so Schmidt in Sitara und der Weg dorthin. Winnetou und Co klettern zwischen "nackten, kahlen Bergen" in sich unablässig "weitende", klaffende Täler hinein, turnen ausgiebig zwischen Po-Hälften aus reinem Granit herum, und so weiter.

Auch hier ist der unbewusste Wunsch Vater des Gedankens. Eine solche Form der Aneignung Amerikas ist dem sächsischen Kitschautor mit Sicherheit nur unterlaufen.

Kolonialistische Positionen

Bei Ravensburger liegen die Dinge derweil einfacher – und sind doch einigermaßen kompliziert. Beschwerden lauteten dahingehend, dass die Abenteuer des Apachenbuben Winnetou und des "weißen" Buben Tom Silver nicht nur Naturvolkklischees bediene. Mit rot angemalten edlen deutschen "Indianern" würden rassistische und kolonialistische Positionen vertreten, und die tatsächliche Unterdrückung der indigenen Bevölkerung würde verschwiegen. Kindern dürfe man diesen Tobak schon gar nicht zumuten.

Eine Lektüre des für Erwachsene in 20 Minuten dank zahlreicher Filmfotos gut bewältigbaren "Erstlesebuchs" ergibt zwar, dass weder das böse Wort "Indianer" vorkommt noch irgendwelche "Rothäute" herumtapsen. Möglicherweise wurden die das Volk der Apachen gebenden Weißbrote allerdings vor den Dreharbeiten ins Sonnenstudio geschickt.

Frei erfunden

Klischees werden in Der junge Häuptling Winnetou schließlich aber doch noch ganz im Sinne Karl Mays (oder Paulo Coelhos) mit Kalendersprüchen bedient. Sie künden etwa davon, dass man sein Herz und nicht den Verstand sprechen lassen solle. Im Impressum weist der Verlag übrigens darauf hin, dass die Handlung des Buchs frei erfunden (!) sei und "kein authentisches Bild der tatsächlichen Lebensweise indigener Völker in Nordamerika" zeichne.

Wirklich übel kommen im Film wie im Buch die eindimensionalen weißen Schurken weg. Die werden im Saloon von einer obligaten Puffmutter mit dem obligaten goldenen Herzen in Schach gehalten. Eine Triggerwarnung muss am Schluss ausgesprochen werden. Das Kinderabenteuer ist furchtbar schlecht mit norddeutscher Schnauze geschrieben worden. (Ronald Pohl, Christian Schachinger, 23.8.2022)