Die Katastrophe, die ein halbes Jahr später über die Ukraine hereinbrechen sollte, am 24. August vergangenen Jahres kündigte sie sich höchstens in einem fernen Grollen an. Die Soldaten, die am ukrainischen Unabhängigkeitstag in die Straßen rund um den zentralen Kiewer Maidan zur Parade abkommandiert waren, schwitzten bei knapp 30 Grad in ihren Uniformen. Über ihren Köpfen durchkreuzten neben ukrainischen Kampfjets auch britische Eurofighter sowie F-16 aus Polen das Blau des Himmels. Und auch die Antonow An-225 "Mrija", auf Deutsch "Traum", das größte Flugzeug der Welt, zog über Kiew die Blicke der Schaulustigen auf sich.

Wolodymyr Selenskyj, damals noch glattrasiert und in dunklem Zwirn statt olivgrünem T-Shirt, hatte am Vortag einen Gipfel geleitet, der sich mit der 2014 von Russland annektierten Halbinsel Krim befasste. Die Liebe der Menschen dort zur Ukraine sei stärker als die Besatzer, erklärte der Präsident in seiner Rede. Neben Abgesandten aus 40 Staaten hatte sich auch Österreichs Außenminister Alexander Schallenberg in Kiew eingefunden. Russland, das die Ukraine ein halbes Jahr später überfallen sollte, beließ es bei Drohungen.

Wie ist die Lage heute?

Genau ein Jahr nach jenem sonnigen Dienstag und zugleich sechs Monate nach Kriegsbeginn ist in Kiew niemandem mehr zum Feiern zumute. Ein Fünftel ihres Territoriums hat die Ukraine seither verloren – das wirtschaftliche Rückgrat des Landes. Laut UN starben bisher mindestens 5.500 Zivilistinnen und Zivilisten, ein Drittel der 44 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer wurde vertrieben. Mariupol, vor einem Jahr noch beliebter Urlaubsort am Asowschen Meer, wurde zu einer Chiffre für die Gräuel des Krieges. Und die Krim-Plattform, die vergangenes Jahr noch hochkarätig besetzt war, trifft sich heuer kriegsbedingt bloß virtuell.

Inszenierung zum Unabhängigkeitstag: Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj nutzt die Gelegenheit, um seine Landsleute einzuschwören.
Foto: Ukrainian Presidential Press Service/Handout via REUTERS

Die ukrainische Armee, die sich vor einem Jahr noch so selbstbewusst präsentierte, hat allem Widerstandsgeist zum Trotz einen hohen Blutzoll gezahlt. Armeechef Walerij Saluschnyj geht von 9.000 getöteten Soldatinnen und Soldaten aus. Für den Londoner "Economist" droht der Krieg in der Ukraine zum blutigsten in Europa seit Beginn des 19. Jahrhunderts auszuarten – von den beiden Weltkriegen abgesehen.

Reichen die Waffenlieferungen?

Ein Ende des Blutvergießens, so viel steht nach einem halben Jahr fest, ist nicht abzusehen. Die Waffenlieferungen des Westens, dessen Würdenträger vor einem Jahr demonstrativ in Kiew die Unabhängigkeit der Ukraine hochleben ließen, reichen bisher nicht aus, um den Verteidigern jene Wende zu ermöglichen, die Selenskyj in seinen zunehmend martialischen Ansprachen beschwört. Dafür, so schätzt der Bundesheer-Analyst Markus Reisner von der Theresianischen Militärakademie im Gespräch mit dem STANDARD, bräuchte es acht- bis zehnmal so viele Waffen wie bisher geliefert wurden: "Man gibt der Ukraine zu viel zum Sterben, aber zu wenig zum Leben." Die jüngsten, wenngleich spektakulären Erfolge, die Angriffe auf Russlands Brückenkopf bei Cherson etwa oder die Zerstörung des russischen Flugfelds Saky auf der Krim, könnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass Kiews seit Wochen angekündigte Offensive bisher ausgeblieben ist.

So bleibt den Ukrainern nur der Mut der Verzweiflung. "Angriffe aus der Luft, wie wir sie jetzt auf der Krim gesehen haben, sind auch ein Zeichen an den Westen, dass sich Waffenlieferungen auszahlen", sagt Reisner. Denn ohne weitere Waffen aus dem Westen sei die Ukraine verloren. Und zuletzt sei die Hilfe eher kleiner als größer ausgefallen. "Meine ukrainischen Kameraden fragen sich, warum die USA nur 16 Himars-Mehrfachraketenwerfer liefern, wo sie doch 300 davon haben." Um der russischen Übermacht entgegenzutreten, wären zumindest 60 bis 100 Stück der hochmodernen Systeme notwendig — also ein Fünftel bis ein Drittel des gesamten US-Arsenals. Realistisch ist das nicht.

Doch für die Ukraine geht es ums Ganze, ist sich Reisner sicher. "Kiew muss verhindern, dass Russland mittelfristig Odessa einzunehmen versucht, denn dann wäre die Ukraine ein Binnenstaat, der nicht überlebensfähig ist." Die Nadelstiche, die Kiew etwa auf der Krim gesetzt hat, bergen freilich Eskalationspotenzial. Die ukrainische Luftabwehr könnte einem im russischen Staatsfernsehen vehement geforderten Vergeltungsangriff auf das Zentrum Kiews nichts entgegenhalten. Tatsächlich wurden von den 3.100 abgefeuerten russischen Marschflugkörpern gerade einmal 190 abgefangen, weil der Armee leistungsfähige Abwehrsysteme fehlen. "Wenn die Ukraine es nicht schafft, ihr Hinterland gegen Marschflugkörper zu schützen, wird es sehr schwer für sie, zu überleben", sagt Reisner.

Kommt es zu Verhandlungen?

Auch die Situation im Osten gestaltet sich für die ukrainischen Verteidiger ein halbes Jahr nach Kriegsbeginn alles andere als hoffnungsvoll. Ein primäres Ziel von Russlands Präsident Wladimir Putin, die Eroberung des gesamten Donbass nämlich, rückt in greifbare Nähe. Dass ihm dies bis November gelingt, hält Reisner für wahrscheinlich: "Dann könnte Moskau, auch aufgrund eigener Erschöpfung, Verhandlungen eröffnen." Der Westen könnte angesichts des Winters, der Energiesituation und der sich verschärfenden Rezession die Ukraine zu einem – für Kiew katastrophalen – Frieden zwingen.

Dire Ukraine begeht ihren Unabhängigkeitstag – öffentliche Veranstaltungen wurden aus Sicherheitsgründen untersagt.
Foto: Ukrainian Presidential Press Service/Handout

Auch der Innsbrucker Politologe und Russland-Kenner Gerhard Mangott rechnet mit einer Feuerpause im Winter – und ortet ein ukrainisches Dilemma: "Für Moskau wäre das eine Win-win-Situation, denn wenn Kiew dieser Waffenruhe zustimmt, könnte man sich in den eroberten Gebieten konsolidieren. Wenn nicht, profitiert Russland durch die dann drohende Spaltung des Westens."

Wie geht es weiter?

Je nach Winterverlauf werde der Krieg in einem halben Jahr wohl etwas abgeschwächt sein, von Frieden könne aber keine Rede sein, prognostiziert Mangott. "Nach der Eroberung des Donbass wird die russische Armee eher ihre Defensivstellungen ausbauen, als dass sie neue Großoffensiven startet, etwa auf Odessa." Immerhin: Sein Ziel, die gesamte Ukraine zu erobern, habe Putin wohl aufgegeben, weil dies die Streitkräfte schlicht überfordere.

Zu feiern gibt es heute, am 24. August, in der Ukraine gleichwohl nichts. Die trügerische Ruhe, die vor einem Jahr noch geherrscht hatte, ist der Angst gewichen. Weil man einen Angriff just am Unabhängigkeitstag befürchtet, untersagten die Kiewer Behörden öffentliche Veranstaltungen. Und die Antonow "Mrija", der Stolz der ukrainischen Luftfahrt, erhebt ihre Flügel nicht mehr. Der Riesenflieger wurde in den ersten Kriegstagen in seinem Hangar nahe Kiew von russischen Truppen in Brand geschossen. (Florian Niederndorfer, 24.8.2022)