Iwan* ist 19 Jahre alt, lebt und studiert in einer Provinzstadt im westsibirischen Altai und trägt eine Last mit sich herum, die sich nur wenige österreichische Altersgenossen ausmalen können. Denn sein älterer Bruder Kostja* ist nicht etwa zu Hause, sondern tausende Kilometer entfernt in der selbst ernannten "Volksrepublik" Donezk. Dort riskiert er sein Leben für den Sieg über die Ukraine. Und trotzdem: "Was mein Bruder da tut, ist richtig", sagt Iwan dem STANDARD.

"Er hat uns irgendwie überzeugt. Er sagte, es sei seine Pflicht als Mann und als Bürger, daran teilzunehmen", schildert Iwan die Argumentation seines Bruders.
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Wie kommt es, dass ein junger Mann den Krieg gutheißt, der den Bruder das Leben kosten könnte? Im Gespräch mit Iwan wird klar, dass Kostja selbst dabei eine größere Rolle spielt als etwa das russische Staatsfernsehen. Erst war die Familie alles andere als überzeugt von der Entscheidung ihres ältesten Sohnes.

Am Anfang stand die Sorge

"Beim Militär wurde gefragt, wer an der Spezialoperation teilnehmen möchte, und Kostja hat sich gemeldet. Wir haben danach lange versucht, ihn davon abzubringen, sagten ihm, dass er sein Leben riskieren würde. Unsere Mutter hat geweint, unser Vater wollte ihn nicht gehen lassen. Ich habe auch versucht, es ihm auszureden", erzählt Iwan.

Es ist der Beginn langer Gespräche in der Familie, während derer Kostja seine Gründe immer wieder darlegt. "Er hat uns irgendwie überzeugt. Er sagte, es sei seine Pflicht als Mann und als Bürger, daran teilzunehmen. Er hat uns auch davon erzählt, was im Donbass passiert ist in der letzten Zeit – einfach schrecklich. Das hat schon 2014 angefangen, als die Regierung in der Ukraine gewechselt hat und angefangen hat, den Donbass zu bombardieren. Er hat auch davon erzählt, was die nationalistischen Bataillone dort anrichten, allen voran Asow. Er hat gesagt, er könne nicht einfach die Hände in den Schoß legen, während dort solche Dinge geschehen würden."

Russlands Kriegsopfer sind ungleich verteilt

Was Iwan im Gespräch aufzählt, ist identisch mit der Begründung, die Russlands Präsident Wladimir Putin für den Überfall auf die Ukraine geliefert hat. Dass aber die ukrainischen Streitkräfte nicht den Osten des eigenen Landes bombardierten, sondern bereits 2014 ein Krieg von prorussischen Separatisten begonnen wurde, und dass russische Bomben die Geburtsstadt des Asow-Regiments, Mariupol, in Schutt und Asche legten, kommt darin nicht vor. Das Militär, meint Iwan stattdessen, gehe sehr genau vor, ohne unnötige Opfer zu schaffen.

Als Kostja in die Ukraine verlegt wird, ist er in seinem vierten Jahr beim Militär. Ihm habe der Zusammenhalt gefallen, meint Iwan, deshalb habe er sich für den Soldatenberuf entschieden. Zuvor hatte er eine Ausbildung abgeschlossen. Der Familie, der auch eine kleine Datscha gehört, geht es materiell nicht schlecht.

Das unterscheidet sie von vielen in ihrer Region, die mit einem mittleren Einkommen von etwa 20.500 Rubel (ca. 340 Euro) pro Monat zu den ärmsten des Landes zählt. Wie mittlerweile bekannt ist, sind es vor allem Männer aus wirtschaftlich schwachen Regionen, die im Ukraine-Krieg für Russland sterben. 114 aus dem Altai zählt das oppositionelle Medium "Mediazona" Stand 12. August, 267 aus dem kaum bessergestellten Dagestan. Auf Moskau mit seinen zwölf Millionen Einwohnern kommen 14 Tote.

Telefonate statt Fernsehen

Iwan hält das für nicht richtig, sein Bruder erzähle etwas ganz anderes, wenn sie am Telefon miteinander sprechen. "Er meinte, dass die Leute aus allen Ecken des Landes in die Ukraine fahren. Auch aus Moskau und Sankt Petersburg, genauso wie aus Dagestan, Tschetschenien, Sibirien. Ich kenne die Zahlen nicht, aber es kann sein, dass die Medien falsche Information verbreiten, damit die Leute Fragen stellen. Das scheint mir wahrscheinlicher. Ich glaube meinem Bruder."

Das Narrativ des Kreml erreicht ihn nicht übers Fernsehen, sondern durch Telefonate mit seinem Bruder oder Telegram-Kanäle, über die viele junge Menschen in Russland Nachrichten beziehen. Auch "westlichen Experten", wie Iwan es formuliert, folge er, sein Englisch reiche dafür aus.

"Diejenigen, die in der Ukraine dienen, sind zum großen Teil freiwillig da", erzählt er. "Mein Bruder sagt, es sind echte Patrioten, die überzeugt sind, das Richtige zu tun. Wenn du dort bist, denkst du nicht ans Geld." Über Berichte, denen zufolge das russische Militär auch Wehrpflichtige in die Ukraine sendet und Rekruten mit hohen Löhnen und Entschädigungen an die Familie, die im Todesfall ausbezahlt werden, lockt, weiß Iwan nichts. Sein Bild entsteht am Telefon, wenn er mit seinem Bruder im Donbass spricht.

Die größte Angst ist vorüber

"Natürlich haben wir in Sorge gelebt, von Anruf zu Anruf. Aber immer, wenn er uns anrufen kann, erzählt er, dass es ihm dort an nichts fehlt." Dort, das war zunächst an der Front – mittlerweile wurde Kostja ins Hinterland verlegt. Vielleicht auch deshalb kann Iwan die Entscheidung seines Bruders unterstützen – die gröbste Angst um dessen Leben ist fürs Erste vorbei. "Am Anfang hat er sich sehr selten gemeldet, vielleicht einmal in der Woche. Im Juli dann wurde es häufiger, zwei- oder dreimal die Woche. Wo genau er ist, kann er uns nicht sagen."

Dafür hat Kostjas Erzählung vom Patriotismus und dem notwendigen Krieg umso mehr verfangen. Iwan gibt sie emphatisch wieder. "Ich glaube, es gab einen Moment, an dem die Ukraine vom richtigen Weg abgekommen ist und angefangen hat, sich nicht mehr korrekt zu verhalten. Ja, es ist alles schwer zu verstehen, aber ich glaube, die Zeit und die Geschichte werden zeigen, wer recht hatte und wer nicht."

Interesse an Europa

Wann und ob Kostja nach Hause zurückkehren wird, kann heute noch niemand sagen. Auch nicht, ob er dann, wenn er nicht mehr von anderen Militärs umgeben ist, eine andere Geschichte erzählen wird. Und auch nicht, ob Iwan für immer bei seiner Überzeugung vom gerechten Krieg bleiben wird. Immer wieder fragt er im Gespräch danach, wie Europa jetzt auf Russen blicke – nicht um Geschichten von der angeblichen europäischen Russophobie bestätigt zu bekommen, sondern mit ehrlich wirkendem Interesse, Geduld und Offenheit. Und befürwortet dann, dass Studierende an seiner Uni über die Richtigkeit des Krieges aufgeklärt wurden.

Aus der Ferne lässt sich schwer sagen, ob Iwans Glaube an den Krieg auch ein Weg ist, mit der Sorge um seinen Bruder zurechtzukommen. Was nach über einer Stunde Gespräch aber klar wird: Nicht die Staatsmedien formten diese Einstellung, sondern die Überzeugungskraft eines geliebten Menschen. Wer weiß also schon, was man in Russland glauben wird, wenn die Brüder, Söhne oder Freunde zu Tausenden aus der Realität des Krieges zurückkehren. (Thomas Fritz Maier, 25.8.2022)

*Die Namen der Protagonisten wurden aus Sicherheitsgründen geändert.