Das politische Gespräch ist der Habgier gewichen: Bei Dao.

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Der 1949 in Peking geborene Bei Dao, dessen bürgerlicher Name Zhao Zhenkai lautet, zählt zu den wichtigsten chinesischen Lyrikern der Gegenwart und galt wiederholt als Anwärter auf den Nobelpreis.

In den 1970er-Jahren, zu Zeiten der Kulturrevolution, hatte er im Geheimen zu schreiben begonnen, seine Gedichte zirkulierten in einem kleinen, vertrauten Leserkreis, so auch das 1976 entstandene Gedicht Die Antwort, das man später bei den Protesten am Tian’anmen-Platz 1989 auf riesigen Postern lesen konnte – es war so etwas wie die Widerstandshymne der chinesischen Demokratiebewegung, zu deren führenden Intellektuellen auch er gehörte.

Im Februar 1989 war er einer von 40 Unterzeichnern eines offenen Briefs an den damaligen Parteiführer Deng Xiaoping. Als es dann zum Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens kam, nahm er gerade an einer Literaturtagung in Berlin teil. Das rettete ihm wohl das Leben. Danach blieb er jahrelang im Exil, am längsten in den USA. Erst 2001, als sein Vater im Sterben lag, konnte er unter Auflagen erstmals wieder nach Peking reisen.

Sinnliche Eindrücke

Von der Wiederbegegnung mit der Kindheitsstadt handelt sein Erinnerungsbuch Das Stadttor geht auf, in dem alles noch einmal beschworen wird, was in der Zeit des Exils so schwer vermisst wurde. Das beginnt mit den sinnlichen Eindrücken: Licht und Schatten, Gerüche, Klänge, umfasst Örtlichkeiten und bestimmte Objekte, ein Straßenhändler, der Geschmack von Karamell oder "Der Gemischtwarenladen an der nordöstlichen Ecke", der "unsichtbare Signale" aussendet …

Anfang der Sechzigerjahre, so der Autor, "glich Peking in seiner Gemächlichkeit einem Dorf". Damit war es schnell vorbei, als 1966 die Kulturrevolution begann. Der Autor war damals 17, in der Schule galten Slogans wie "Backt keine Kuchen für die Bourgeoisie!" oder "Ist der Vater ein Reaktionär, wird der Sohn ein Schweinehund" – so klangen auch die Schlachtrufe der Rotgardisten. Die Mittelschule Nr. 4, die Bei Dao besucht, wird zu einem "Zentrum der Pekinger Kulturrevolution" und später zu einem "Versuchsplatz für die sozialistische Erziehungsbewegung".

Unterwerfungsbekundungen

An ihrem Höhepunkt, dem "Roten August", sorgen nicht nur Arbeitergruppen und Propagandatrupps der Armee für systematischen Terror, es sind die Schüler selbst, die ihre Lehrer auf Wandzeitungen denunzieren und im Schulhof verprügeln. Öffentliche Demütigungen wie Spießrutenlaufen stehen an der Tagesordnung, den als Reaktionäre Gebrandmarkten werden hohe Hüte aufgesetzt und Schilder umgehängt, auf denen ihre Vergehen vermerkt sind. "Ich bin schuldig. Ich bitte den Vorsitzenden Mao um Vergebung", lauten gleichzeitig erzwungene Geständnisse und Unterwerfungsbekundungen.

Eine Lehrerin begeht Selbstmord wegen "Klärung der Klassenzugehörigkeit", es ist nicht der einzige Freitod an der Schule. Bis tief in die Familien hinein reicht die Kontrolle der Partei: Einmal gibt der Sohn dem Vater ein Gedicht zu lesen – der erschrickt und befiehlt sofort, es zu verbrennen.

So beängstigend diese Atmosphäre erscheint, der Autor schildert sie geradezu stoisch, fast aus der Position des Unbeteiligten. Dabei sterben täglich Mensch an Hunger oder verschwinden auf Anordnung der Partei, und nicht zuletzt wurden auch der Autor und seine Familie in dieses System gezwungen, zur Kaderschule und zum Aufbaukorps verdammt. Er selbst wurde nach der Schule sogar Rotgardist, plünderte Bibliotheken, weil es die "Weltanschauung" von ihm verlangte. Erst die heimliche Lektüre von Kafka, Sartre, Camus habe seinen Horizont geöffnet, bemerkte er einmal.

Leben als Versprechen

Bei Dao, "Das Stadttor geht auf. Eine Jugend in Peking". Aus dem Chinesischen von Wolfgang Kubin, der einen Essay beisteuerte. 25,70 Euro / 333 Seiten. Hanser, München 2021
Cover: Hanser Verlag

Trotz der gesellschaftlichen und persönlichen Traumata, die diese Jugend bestimmen, werden in diesem Buch Idyllen beschrieben. Aber gerade das vermag sprachlich zu beeindrucken, der lyrische Grundton des Erinnern, der nicht an der Realität vorbeigeht, aber das Gewesene zu retten versucht.

Nicht von ungefähr drängt sich der Vergleich mit Orhan Pamuk und seinem wunderbaren Erinnerungsbuch über das Istanbul seiner Kindheit auf. Beide Autoren beschwören die Topografie versunkener Städte und ihrer sinnlichen Augenblicke, nicht zuletzt ist Das Stadttor geht auf ein beeindruckender Gegentext zum Peking von heute, "in dem das Geld herrscht und das politische Gespräch der Habgier gewichen ist".

So merkt es in einem Essay am Ende des Buches der Sinologe Wolfgang Kubin an, der sich erneut als meisterlicher Übersetzer aus dem Chinesischen erwiesen hat. Ihm verdanken wir ja die Übertragung von Bei Daos Gedichten, die man allen nur ans Herz legen kann, und als Annäherung zu seinem lyrischen Werk empfiehlt sich gewiss dieses Buch. Dabei hatte Bei Dao einmal in einem Interview gemeint, dass Poesie nutzlos sei, weil man mit ihr die Gesellschaft nicht verändern könne. Nein, das kann man nicht, aber die Welt erträglicher machen. "Leben", heißt es etwa in seinem Gedicht Trostgesang, "ist nur ein Versprechen / Sei nicht verletzt um seinetwillen". (Gerhard Zeillinger, ALBUM, 28.8.2022)