Afghanische Flüchtlinge in Wien. Für Schutzsuchende ist Österreich auf ihrem Weg durch Europa vielfach das erste Land, in dem sie ein funktionierendes Asylsystem vorfinden.

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Es sei eine Frage der Perspektive, sagt der Soziologe und Migrationsforscher Gerald Knaus. Mit einem, in seinem Fall, international vergleichenden Blick komme er zu einer anderen Einschätzung über den österreichischen Umgang mit Flüchtlingen, als ihn engagierte Menschen haben, die hierzulande gegen ungerechte Asyl- und Bleibeentscheidungen protestieren. Und die sich über Härte demonstrierende, rechtsstaatlich fragwürdige Sprüche politisch Verantwortlicher zu Flüchtlingsthemen empören.

"Österreich ist eines jener Länder in der Europäischen Union, in denen Flüchtende Vertrauen haben, dass sie ein faires Verfahren bekommen", sagte Knaus in einem ZiB 2-Interview vor wenigen Tagen. Im Beitrag davor war es um die heuer bereits rund 42.000 Asylanträge in Österreich gegangen – und um die geplante Antimarketingkampagne von Innenminister Gerhard Karner (ÖVP) gegen Schlepper in jenen Herkunftsländern, wo Migranten nur geringe Chancen auf Schutz haben; etwa Tunesien und Marokko sowie Indien und Pakistan.

Bei Schutzgewährungen top

Knaus’ positive Sicht auf das heimische Flüchtlingswesen stieß bei manch Engagierten auf Unverständnis. Sein Zugang basiert jedoch auf Zahlen aus der Asylstatistik: Der Migrationsexperte hat sie für sein im Oktober im Brandstätter-Verlag erscheinendes Buch Wir und die Flüchtlinge in einen europaweiten und globalen Kontext gestellt. Von 2018 bis 2021 – in "der Ära Kurz und Kickl", betont der Soziologe mehrmals – wurden in Österreich in 58.000 Fällen Asyl und subsidiärer Schutz gewährt.

EU-weit sei das "ein Spitzenwert". Hätten die Asylbehörden in den europäischen Demokratien, also der EU, Großbritannien, der Schweiz und Norwegen, vergleichbar oft positiv entschieden, so hätte Europa in besagtem Zeitraum 3,3 Millionen Flüchtlingen einen entsprechenden Aufenthaltstitel gegeben. Tatsächlich, so Knaus, waren es aber mit 1,1 Millionen Gewährungen nur ein Drittel.

Gerald Knaus zieht internationale Asylvergleiche.
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Ist Österreich mit seinen strengen Asylgesetzen, mit den wiederholten Abschiebetragödien rund um hier aufgewachsene Kinder und mit der martialischen Flüchtlingsabwehrrhetorik aus dem Mund von manchem Politiker also in Wirklichkeit Europas Flüchtlingskaiser? Nein, meint der Anwalt mit Schwerpunkt Asylrecht und Vertreter der 13-jährigen Wiener Schülerin Tina, Wilfried Embacher.

Zuletzt machte der Fall der in Österreich geborenen Tina erneut Schlagzeilen. Die 13-Jährige war 2021 samt ihrer Familie trotz massiver Proteste nach Georgien abgeschoben worden, nachdem ihre Mutter als Asylwerberin mehrfach gescheitert war. Der Verwaltungsgerichtshof bezeichnete den Abtransport des hier verankerten Mädchens rückwirkend als unzulässig.

Hinweise auf Defizite

Innenminister Karner ließ das so nicht stehen. Die Fremdenbehörden hätten keinen Fehler gemacht, sagte er in einem "ZiB 2"-Interview vor wenigen Tagen – und wiederholt es im STANDARD-Interview. Denn das Höchstgericht selbst habe in seinem Spruch konzediert, dass die Causa auch "anders interpretierbar" gewesen wäre. Abschiebungshemmende Wirkung auf vergleichbare künftige Fälle von Familien mit Kindern sah der Minister keine – für Kritiker ist das eine Missachtung rechtsstaatlicher Entscheidungen.

Fälle wie jener Tinas zeigten einen von vielen Verfahrenswegen auf, in denen es zu Unrecht kommen könne, erläutert Embacher. "Auch wenn in Österreich viele Flüchtlinge Schutz und Menschen aus humanitären Gründen Bleiberecht erhalten und auch wenn dabei drei von vier Verfahren korrekt laufen, gibt es doch immer den vierten Fall mit zum Teil massiven Problemen", sagt er.

Diese Fehlentscheidungen wiesen auf Defizite hin. Daher brauche es rechtsstaatliche Kontrolle, Rechtsvertretung und Unterstützung der einzelnen Flüchtlinge, um zu verhindern, dass Menschen mit Schutzgründen abgewiesen werden. Tatsächlich ist etwa das Bundesverwaltungsgericht, die zweite Instanz in Asylverfahren, mit einer Vielzahl unzureichender Entscheidungen des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl als Erstbehörde konfrontiert. Werden diese nicht korrigiert, sind die Betroffenen, die Österreich in der Folge verlassen sollen, existenziell bedroht.

Härte, aber nicht als Norm

Doch, solche Härtefälle gebe es, erwidert hier Migrationsexperte Knaus. Die Frage, die gestellt werden müsse, um das österreichische Flüchtlingswesen zu beurteilen, laute jedoch: "Werden solche unfairen Entscheidungen systematisch getroffen? Gehören sie zur Norm?"

DER STANDARD

Dies, so Knaus, sei augenscheinlich nicht der Fall. Während etliche andere europäische Staaten Flüchtlinge einfach durchwinkten, um mit ihnen asylrechtlich nichts zu tun zu haben, und an einer Reihe von EU-Außengrenzen Flüchtlingsrecht durch illegale Pushbacks systematisch gebrochen werde, funktioniere in Österreich das System im Grunde. Wichtig sei jedoch, auf Einhaltung von Qualitätsstandards in den Verfahren zu achten.

"Österreich ist vielleicht eine viel flüchtlingsfreundlichere Gesellschaft, als es die Verantwortlichen sagen wollen und es die kritischen Teile der Bürger sehen", sagt Knaus. Das, so sagt er, hänge vielfach mit der "wachen Zivilgesellschaft" zusammen, die weit hinein in die Normalbevölkerung reiche, auch in ÖVP-Kreise.

Verbesserungen nötig

Dass es in Österreich eine breite Basis von Flüchtlingsunterstützern und -unterstützerinnen gibt, streicht auch Ruth Schöffl, Sprecherin des UN-Flüchtlingshochkommissariats UNHCR in Wien, heraus. Mit dabei seien etablierte NGOs wie Caritas und Diakonie, ein weiterer Vorteil, sagt sie. Das österreichische Asylsystem schätzt sie als "solide und tragfähig" ein, selbst wenn es in manchen Bereichen Verbesserungsbedarf gebe. "Nötig wäre etwa breiter Deutschkurszugang während des Asylverfahrens, vor allem in Fällen mit hoher Gewährungswahrscheinlichkeit."

Dazu in Widerspruch steht laut Schöffl jedoch die politische Kommunikation über Asyl. Tatsächlich äußern sich ÖVP sowie Einzelne aus der SPÖ, getrieben von FPÖ und anderen Rechten, ja mit harten Worten, sobald es um Flüchtlinge geht. Als der jetzige FPÖ-Chef Herbert Kickl Innenminister war, wurde in jeder Polizeieinsatzmeldung sogar dazugeschrieben, wenn es sich bei einem Verdächtigen um einen Asylwerber handelte. Auch die Nationalität wurde genannt. Außerhalb Österreichs falle es ihr in Gesprächen manchmal nicht leicht, die Kluft zwischen restriktiver Rhetorik und solidem Asylsystem zu erklären. (Irene Brickner, 26.8.2022)