Eigentlich war es nur eine kurze Passage, eine Nachfrage am Ende eines Interviews. "Nichts ist in Stein gemeißelt", antwortete Thomas Stelzer – und meinte damit die Russland-Sanktionen. "Denn", so formulierte es der oberösterreichische Landeshauptmann und ÖVP-Chef im Anschluss in Gesprächen mit verschiedenen Medien wortgleich: "Bevor es zu einer Situation kommt, dass wir uns selbst unser Leben massiv beschädigen, müssen wir natürlich darüber nachdenken, ob diese oder jene derzeit wirksame Sanktion weiterbetrieben wird."

Die Ansage löste ein leichtes innenpolitisches Beben aus. Rückt die ÖVP gerade von ihrer bisherigen Haltung zum Krieg und den beschlossenen EU-Sanktionen ab?

Für Oberösterreichs Landeshauptmann Thomas Stelzer (links) sind die Sanktionen nicht in Stein gemeißelt.
Foto: APA / Team FotoKerschi

In der Volkspartei war man in den folgenden Tagen um Beschwichtigung bemüht. Anton Mattle, der sich im Wahlkampf befindet, pflichtete Stelzer zwar vorerst bei. Er sei für dessen Vorschlag "offen". Kurz darauf ruderte der neue Tiroler ÖVP-Chef wieder zurück – und auch alle anderen Landesparteien beschworen Einigkeit in der Sanktionsfrage. Die Linie des Bundeskanzlers und obersten Parteichefs Karl Nehammer sei klar und unumstritten: Sanktionen sind natürlich auch schmerzhaft, aber notwendig.

Angebliche Fehlinterpretationen

Sogar die kleineren Landesparteien blieben bei der Stange: "Wir verurteilen den russischen Angriffskrieg und die verübten Kriegsverbrechen in der Ukraine. Wir stehen hinter den Sanktionen", bekräftigte etwa Burgenlands ÖVP-Chef Christian Sagartz. Und auch Kärntens Parteiobmann, Landesrat Martin Gruber, assistierte: "Die Sanktionen gegen Russland haben Auswirkungen hier wie dort, aber sie waren und sind notwendig." Am deutlichsten wurde der Salzburger ÖVP-Generalsekretär Wolfgang Mayer: "Wir dürfen uns nicht auseinanderdividieren lassen", beschwor er wohl auch seine eigene Partei.

Am Dienstag schließlich äußerte sich Karl Nehammer während eines Tirol-Besuchs persönlich: Wer eine Aufhebung der Strafmaßnahmen gegen Russland fordere, agiere "unverantwortlich", erklärte er. Seine skeptischen Parteifreunde seien da allerdings bloß missinterpretiert worden. Niemand sei gegen die Sanktionen, dennoch müsse man sie immer wieder auf ihre Treffsicherheit überprüfen – da gebe es keinen Widerspruch in der schwarzen Positionierung, im Gegenteil: In der ÖVP sei man sich einig. Aber, stimmt das?

Im öffentlichen Wording üben sich die Parteispitzen in den Ländern im Gleichklang – allerdings im Wissen um die Dissonanzen bei diesem Thema an der Parteibasis. Denn natürlich hört man in den Ländern die Stimmen an den Stammtischen und weiß, dass die Stimmung angesichts der dramatisch steigenden Lebenshaltungskosten und der vielen Ungewissheiten kippen könnte.

Kanzler Karl Nehammer verteidigt sie.
Foto: APA / Georg Hochmuth

Und die ÖVP hat derzeit nicht gerade Oberwasser: Die bundesweiten Umfragen sind schlecht, vor allem aber stehen mehrere Landtagswahlen an. Umfragen lassen für die Volkspartei in Tirol wie auch in Niederösterreich einen dramatischen Absturz befürchten.

Österreich "an erster Stelle"

Dass sich Stelzer jetzt – wohl ohne große gesamtpolitische Strategie dahinter – zu den deutlichen Worten zur Sanktionsfrage hinreißen ließ, wird so interpretiert: Er habe aus der Situation in Oberösterreich heraus "Signale" an die Stammtische gesandt; "Signale" an die rechte Wählerschaft in seinem Bundesland, die so klein nicht ist. "Stelzer wollte sicher versuchen, in diesen Lagern einige Stimmen abzuholen und die Kritik an den Sanktionen nicht allein der FPÖ zu überlassen", vermutet ein ÖVP-Landespolitiker.

Es gibt nicht wenige Schwarze und Türkise, die zumindest in Hintergrundgesprächen zugeben: Stelzer habe grundsätzlich auch recht. Die Sanktionen seien weltpolitisch betrachtet natürlich richtig, aber lässt sich das den Österreicherinnen und Österreichern ausreichend erklären? Jeder sei schließlich sich selbst der Nächste, wird argumentiert. Oder wie ÖVP-Generalsekretärin Laura Sachslehner es im Gespräch mit dem STANDARD formuliert: "Entscheidend ist schlussendlich trotzdem, dass wir klar zeigen, dass die Interessen Österreichs für uns immer an erster Stelle stehen."

Schon jetzt ist die Bevölkerung in der Frage rund um die Russland-Sanktionen nachweislich gespalten. Aus einer aktuellen Market-Umfrage für den STANDARD geht hervor, dass nur 25 Prozent der Befragten völlig und weitere 21 Prozent überwiegend damit einverstanden sind, dass die Regierung die EU-Sanktionen gegen Russland mitträgt. Diesen 46 Prozent an Befürwortern stehen 40 Prozent gegenüber, die sich "überwiegend" oder "ganz sicher" gegen die Sanktionen aussprechen. Und die Stimmung im Land, das fürchten auch viele in der ÖVP, könnte umschlagen.

Hiobsbotschaften und Hilferufe

Derzeit steht deutlich mehr als die Hälfte der Wähler von SPÖ, ÖVP und Neos hinter den Sanktionen. Bei den Grünen sind es sogar drei Viertel der Wählerschaft, zeigt die Market-Erhebung. Die Anhänger von FPÖ und MFG sind hingegen zu gut zwei Dritteln gegen die Sanktionen – und die politisch derzeit unentschlossenen Wahlberechtigten zu mehr als der Hälfte.

Wenn dann Familien die neuen Gas- und Strompreisvorschreibungen in Händen haben, jeder Euro beim Lebensmitteleinkauf dreimal gedreht werden muss, wird die Debatte hochkochen, fürchten viele im politischen Betrieb. Und Karl Nehammer samt seiner Koalition mit den Grünen könnte enorm in Zugzwang kommen.

Aus der Industrie und aus den Klein- und Mittelbetrieben kommen längst Hiobsbotschaften und Hilferufe. Wohl deshalb gilt Wirtschaftskammer-Chef Harald Mahrer, ebenfalls ein ÖVP-Mann, als einer der schärfsten offenen Kritiker der Russland-Sanktionen. Mahrer sagt, sie seien "nur mit einer Gehirnhälfte" gedacht. Darüber hinaus gibt es für die Regierung noch eine Nebenkrise: Derzeit ist noch nicht klar absehbar, wie sich die Pandemie über den Herbst entwickelt.

Riesenherausforderung

Nehammer steht mit seiner Volkspartei jedenfalls vor einer gewaltigen Bewährungsprobe. Ein ÖVP-Spitzenpolitiker aus einem Bundesland formuliert es recht unverblümt so: "Das ist eine Riesenherausforderung für Karl Nehammer, aber auch die wirklich letzte große Chance für die ÖVP. Wenn wir diesen Herbst diese epochalen Probleme nicht derheben, wird es für die Partei finster. Dann ist es aus." Anders formuliert: In den kommenden Monaten wird es zum Showdown kommen – entweder die Regierung besteht den befürchteten Vielkrisenherbst, oder es wird eng für Nehammer und Türkis-Grün.

ÖVP-Generalsekretärin Sachslehner sieht die Problematik ebenfalls.
Foto: APA / Hans Punz

ÖVP-Generalsekretärin Sachslehner sieht die Problematik ebenfalls. Sie sei aber "total überzeugt": "Wenn wir jede Entwicklung beobachten und gegensteuern, wird sich das bewältigen lassen." Gerade wurde die Auszahlung des Klima- und des Antiteuerungsbonus vorgezogen. Bald darauf würden die staatlichen Hilfen dann auch in den Köpfen der Menschen ankommen, wird in der Regierung gehofft. "Wir tun alles, wo wir Handlungsspielraum haben", sagt Sachslehner.

Dieser ist gerade in Bezug auf die Sanktionen enorm begrenzt. Die jetzt in der ÖVP aufgebrochene Debatte verläuft in der Praxis ins Leere. Denn die Sanktionen sind eine Entscheidung des Europäischen Rates und setzen Einstimmigkeit voraus. Österreich hat die Sanktionen mitbeschlossen und kann allein und autonom nun am Regelwerk nichts ändern. Eventuell könnte Nehammer Nuancen in der Umsetzung beeinflussen – etwa mit welcher Konsequenz gegen russische Oligarchen vorgegangen wird und deren Besitztümer aufgespürt werden.

Im Fall des Falles müsste der Kanzler zuerst in der Regierung eine Mehrheit gegen die Sanktionen finden und anschließend nach Brüssel pilgern, um dort mitzuteilen, dass Österreich die Sanktionen nicht mehr mittrage. Es ist ein wenig realistisches Szenario.

Mitspielen auf der großen Bühne

Gleichzeitig versucht sich Nehammer bereits seit einiger Zeit als außenpolitisch versierter Staatsmann zu positionieren. Und er gefällt sich in dieser Rolle.

Die erste Strategie seines Teams, nachdem er Kanzler geworden war, lautete: Karl Nehammer ist – in Abgrenzung zu seinem Vorgänger Sebastian Kurz – "einer wie wir"; ein echter, normaler Mensch. Dann wollten ihn seine Berater als Managertypen für alle Krisen inszenieren. Beide Strategien wurden durch zahlreiche Affären und kleine bis handfeste Skandale in seiner Partei verhagelt.

Nachdem die Lage im Inland für ihn immer schwieriger wurde, sollte Nehammers außenpolitisches Profil geschärft werden – beginnend mit seiner Reise nach Moskau. Der Kanzler will auf der großen Bühne mitspielen, eine Abkehr von den EU-Sanktionen würde da überhaupt nicht ins Bild passen. In der ÖVP geht deshalb auch kaum jemand davon aus, dass Nehammer seine Linie in Bezug auf die Sanktionen ändern wird.

"Jeder, der von dieser europäischen Einigkeit abweicht, folgt letztlich dem russischen Narrativ", sagt Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka, auch ein ÖVP-Mann, dem STANDARD. "Die Sanktionen zeigen natürlich Wirkung in Russland. Wer das Gegenteil behauptet, spielt das Spiel von Putin." (Katharina Mittelstaedt, Walter Müller, 27.8.2022)