Eines der Schafe, die auf dem Sonnjoch von einem Wolf getötet wurden – stellvertretend für ein Dutzend toter Tiere, von denen die meisten in einem noch viel schlimmeren Zustand, blutverschmiert, verstümmelt, zerrissen, aufgefunden wurden.

Foto: Weidezone Tirol

Die Bilanz einer Sommernacht: Zwölf tote Schafe, deren zerfetzte, blutige Körper im Umkreis von ein paar hundert Metern in den Kitzbühler Alpen herumliegen. Eines hat sich noch zu einer Wasserstelle schleppen können und ist dort verendet. Ein anderes, das zeigt das Handyvideo eines Bauern, der am Samstagvormittag mit 20 weiteren Helfern seine Tiere sucht, stolpert über alpines Geröll und ist so entkräftet, dass es den Berghang hinunterkullert.

Der Wolf war da. Oder mehrere waren unterwegs. "Die Leute haben überhaupt keine Vorstellung davon, wie es aussieht, wenn ein Wolf auf eine Schafherde trifft", erzählt Stefan Brugger, der Obmann des Vereins "Weidezone Tirol" im STANDARD-Interview: "Es ist ein Gemetzel."

Dabei sind die zwölf toten Schafe nur eine vorläufige Zahl an diesem einen Tag. Die Wolfsopferbilanz der vergangenen Woche alleine im Umfeld dieser Alm auf dem Sonnjoch schätzt der betroffene Bauer mit "bis jetzt 21 Stück Schafe und Ziegen".

Laut einer Auskunft des Tiroler Agrarlandesrats Josef Geisler (ÖVP) vom Freitag wurden in Tirol bis jetzt 14 Wölfe nachgewiesen. Das Thema Wölfe hat sich zu einem der hitzigsten Themen im Tiroler Landtagswahlkampf entwickelt.

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In ganz Tirol belaufe sich die Zahl der von Wölfen gerissenen Tiere – es sind mehrheitlich Schafe, aber auch junge Ochsen und andere Rinder wurden bereits getötet – auf 300 bis 400, schätzt Stefan Brugger. Alleine in Osttirol sind es mehr als 200. Es müsse etwas geschehen.

Zumal es aktuelle Bilder gibt, die die Almbauern mit großer Sorge erfüllen. Ein in dieser Woche gemachtes Video zeigt nämlich ein ganzes Wolfsrudel. In den Lienzer Dolomiten, am Hochstadel, bestätigt Brugger die Echtheit der Aufnahme. Und jetzt? Wie weiter, Herr Brugger? Sein Verein "Weidezone Tirol" hat aktuell rund 17.000 Mitglieder, von denen zwei Drittel selbst keine Bauern sind, die Tiere auf der Alm halten und daher von Wolfsrissen persönlich betroffen sind, sich aber für das Anliegen interessieren. Brugger schätzt, dass die Vereinsmitglieder, die aktive Bauern und Bäuerinnen sind, rund 10.000 Schafe betreuen.

Foto: Weidezone Tirol

STANDARD: Herr Brugger, was bedeutet die bestätigte Existenz eines Wolfsrudels aus Ihrer Sicht?

Brugger: Für uns als Nutztierhalter ist die Ausbreitung des Wolfes extrem schlimm. Wir haben immer gewarnt, dass man es nie so weit kommen lassen darf, dass es zur Rudelbildung kommt. Ich glaube sogar, dass wir auch im Tiroler Unterland ein Rudel haben. In der Kelchsau im Brixental hatten wir letztes Jahr schon eine Wölfin, die da gejagt hat, die ist immer noch da. Und wenn die Natur einen normalen gesunden Weg geht, dann sind da auch schon Junge da, auch wenn die noch niemand gesehen hat.

STANDARD: Ein Rudel verschärft die Lage also weiter?

Brugger: Ja, wir haben schon jetzt Riesenprobleme. In Osttirol wurden heuer schon weit über 200 Schafe, geschätzt an die 250, gerissen. Auch Tourismusverbände rufen schon nach einer Regelung zum Thema Wolf, weil das so nicht geht. Die fürchten touristische Einbußen. Und für uns Bauern ist das der Beginn vom Ende der Almwirtschaft. Ein Wolfsrudel ist insofern noch einmal schlimmer, weil jetzt sind noch mehr Mäuler zu stopfen. Man muss ja eines sagen: Diese Wolfseltern reißen Nutztiere und die werden das ihren Jungtieren, dem Wurf, beibringen, wenn die nicht ohnehin schon auf der Jagd dabei sind. Das heißt, die lernen jetzt auch schon, Nutztiere zu reißen. Und die werden das wieder weitergeben. Das heißt, wenn nicht klare Entnahmen passieren, dann müssen wir Menschen uns von den Almen zurückziehen. Und nicht nur die Bauern, auch die Wanderer, Menschen aus der Stadt, die irgendwo ganz gemütlich eine Decke aufschlagen und ein Picknick machen. Das wird es so auch nicht mehr spielen.

STANDARD: Beschreiben Sie doch bitte einmal für Menschen in der Stadt, die die auf dem Video zu sehende "Wolfsfamilie", zu der Vater, Mutter und sechs Welpen gehören, vielleicht vor allem als lieb und harmlos und ein Naturidyll wahrnehmen, warum Sie darin eine Gefahr nicht nur für sich und andere Almbauernfamilien sehen und daher "Entnahmen", also Abschüsse, fordern.

Brugger: Zuerst war der Wolf immer so ein Problem der Schafhalter, das ist er schon lange nicht mehr. Der Wolf ist mittlerweile ein Problem der Menschen geworden, da ist es ganz egal, ob jemand ein Bauer ist oder nicht. In ganz Tirol haben wir sicher an die 300 bis 400 tote Tiere in diesem Sommer zu beklagen. Und das Schlimme daran ist: Der Wolf tötet ja nicht, um zu fressen. Wenn er ein Schaf töten und das auffressen würde, dann hätten wir Bauern nicht so das Problem, aber der tötet zwölf Schafe, um von einem Tier ein paar Kilo zu fressen. Das ist das Problem. Dazu kommen die verletzten Schafe. Erst gestern hatten wir einen Fall, wo der Bauer am Berg ein verendendes Schaf, das bald stirbt, das nicht mehr aufkommt, gefunden hat. Dann ist er gezwungen, das Tier zu erlösen. Rein tierschutzrechtlich darf der Bauer das nicht, sondern nur der Tierarzt. Das heißt, der Bauer muss ins Tal hinuntergehen, einen Tierarzt auftreiben, mit ihm oft in unwegsames Gelände aufsteigen, um dann das Tier zu erlösen. Bis dahin muss das Tier Schmerzen erleiden.

Foto: Weidezone Tirol

STANDARD: Was ist ihre politische Forderung?

Brugger: Unsere Forderung an die Politik ist einfach – das, was wir seit einem Jahr fordern: endlich ein gescheites Jagdgesetz. Mit dem Jagdgesetz, das wir haben, geht das nicht. Zur Zeit schimpft ja die ganze Politik, vor allem die ÖVP, und das finde ich so zum Schämen, sie schimpft auf den WWF und auf das Jagdgesetz und sie behaupten, dass ihnen die Hände gebunden sind, dass man nichts tun kann. Dabei haben sie dieses Jagdgesetz im Juli letzten Jahres selbst beschlossen. Und wir haben ihnen schon damals mehrmals mit Nachdruck gesagt: "Das geht so nicht."

STANDARD: Was müsste also konkret getan werden?

Brugger: Zusätzlich zu einem gescheiten Jagdgesetz brauchen wir in Tirol – oder besser noch in ganz Österreich – eine Zonierung. Eine Zone, also ein geografisch abgestecktes Gebiet, wo man ganz klar definiert, das ist die Zone 1, hier darf das Raubtier, der Wolf, der Bär, der Luchs, der Schakal leben. Das ist sein Lebensraum. Aber dann muss es auch Zonen geben, wo wir sagen, hier haben Nutztiere das Recht auf Leben.

STANDARD: Was ist das Problem am jetzigen Jagdgesetz?

Brugger: Das Jagdgesetz ist immer Bundesländersache. Im Tiroler Jagdgesetz steht zum Beispiel drin, dass ein bestimmter, zu identifizierender Wolf geschossen werden darf, wenn er gewisse Sachen anstellt, aber er muss identifiziert werden. Nach Alter, Größe, Geschlecht, Gewicht oder Farbe. Diese Bescheide für einen Abschuss müssen im Internet veröffentlicht werden, damit zum Beispiel NGOS Einsicht haben, denn sie haben ein Einspruchsrecht. Laut Gesetz müsste im Bescheid also genau drinstehen, welcher Wolf in welcher Region zu welchen Zeiten geschossen werden darf. Im Bescheid steht aber immer, dass "ein" Wolf geschossen werden kann, und darum hebt das Landesverwaltungsgericht den Bescheid immer auf, weil es sagt: Ja, so geht's nicht, da kann man ja den falschen schießen. Wir haben in Tirol das Problem, wenn wir zum Beispiel am 1. August einen Riss haben, dann kommt der Hirte, sieht den Riss, meldet das dem Tierarzt und der Amtstierarzt steigt hinauf auf die Alm, nimmt eine Tupferprobe für die DNA. Die wird nach Wien geschickt, dort werden Kulturen angesetzt, die müssen zehn bis 14 Tage wachsen, dann werden sie ausgewertet, damit man weiß, von welchem Tier diese DNA stammt, danach wird eine Genotypisierung gemacht, damit man sagen kann, von welchem Tier genau die Probe stammt. Ist das Tier schon einmal auffällig geworden? Dann geht es zurück nach Tirol, dort in die anonyme Kommission, die berät und gibt dann der Landesregierung eine Empfehlung und die wiederum stellt dann einen Bescheid aus. Da vergehen in der Regel sechs bis acht Wochen. Also eine ganze Misere. Schuld ist die Tiroler Landesregierung – bei uns sind das die ÖVP und die Grünen –, weil die ein Gesetz erlassen haben, das nicht anwendbar ist – und jetzt haben sie die Frechheit und schimpfen über dieses Jagdgesetz. Wir brauchen endlich ein gescheites Gesetz, wir brauchen eine Zonierung und wir brauchen statt eines Bescheids eine Verordnung, weil die kann nicht beeinsprucht werden, sondern erlangt sofort Rechtskraft. Sonst funktioniert das nicht.

STANDARD: Es klingt so, als ob Sie sich von der Politik, aber auch der Gesellschaft, die das Thema Wolf oft sehr emotional debattiert, zumindest einige Gruppen, im Stich gelassen fühlen?

Brugger: Das ist ein wichtiges Thema: Wenn die Gesellschaft, egal, ob WWF, Naturschützer oder die Menschen aus der Stadt, den Wolf oder Raubtiere haben will, dann ist es nicht fair, wenn es der Bauer ausbaden muss. Aber das ist zur Zeit so. Wir Bauern müssen es ausbaden. Die Leute haben ja gar keine Vorstellung, was das für ein Gemetzel ist, wenn ein Wolf über eine Schafherde herfällt. Da ist auch viel Scheinheiligkeit dabei. Um das tote Schaf und dessen Qualen kümmern sich viele, die dem Wolf das Wort reden, nicht. Das ist eine Scheinheiligkeit, die ist zum Schämen.

STANDARD: Wie viele Wölfe müssten aus Ihrer Sicht geschossen werden?

Brugger: Dazu kann ich sagen: Wir sollten in Tirol endlich einmal Zonen ausrufen, und zwar so, dass unsere Almen absolute Zonen sind für Nutz- und Weidetiere und jeder Wolf, der sich in dieser Zone aufhält, wird geschossen. Ganz einfach. Bei dem jetzt gesichteten Rudel ist das relativ einfach zu sagen: Da müssen wir einzelne Tiere herausschießen, und zwar so, dass die anderen Wölfe dabei lernen, dass vom Zweibeiner Gefahr ausgeht, dann werden sie uns meiden. Da müssen wir wieder hin.

STANDARD: Ist das Rudel, das jetzt auf dem Video zu sehen ist, in so einer Almzone?

Brugger: Wir haben ja noch keine Zonen, aber ja, die sind in den Lienzer Dolomiten und das ist eine Alm. Man hat übrigens in Lavant ein Herdenschutzprojekt gemacht mit Hirten, mit Hunden, mit Zäunen, mit allem, was gefordert wird, und dort haben wir im Verhältnis die meisten Risse. Dort hat der Wolf 30 Meter unterhalb der Hütte für den Hirten die Schafe gerissen. Der Wolf hat gelernt. Der Wolf ist ein hochintelligentes Tier und er hat eines gelernt: Ein Zaun, ein Hund, ein Mensch ist ein Hindernis, aber keine Gefahr. Und das ist der Unterschied. Da müssen wir wieder hin. Früher hat der Wolf genau gewusst, der Mensch ist eine Gefahr, die er meidet. Jetzt weiß er: Der Mensch ist nur ein Hindernis, darum geht er in die Siedlungen. Die jungen Wölfe werden immer frecher, die sehen im Menschen keine Gefahr, sondern ein Hindernis. Wir müssen und wollen den Wolf nicht ausrotten, das möchte ich einmal klar sagen: Es heißt immer, die Bauern oder die Weidezone Tirol möchte den Wolf ausrotten. Nein, wenn wir den Wolf ausgerottet hätten, gäbe es ihn ja nicht mehr. Man hat den Wolf zurückgedrängt und das wollen wir wieder.

Stefan Brugger, Obmann des Vereins "Weidezone Tirol".
Foto: Stefan Brugger

STANDARD: Haben Sie selbst eigentlich auch schon Schafe an den Wolf verloren?

Brugger: Ich lebe im Ötztal, habe 23 Schafe und bis jetzt ist Gott sei Dank noch keines vom Wolf gerissen worden, nicht auf der Alm, auf der ich bin.

STANDARD: Was passiert jetzt mit den toten Schafen, die heute Vormittag auf dem Sonnjoch entdeckt wurden?

Brugger: Die müssen natürlich geborgen werden, die Bauern sind dazu verpflichtet. Auch so ein Aspekt, den viele nicht sehen wollen: Diese Tiere auf dem Sonnjoch können aufgrund des Geländes nur mit dem Hubschrauber geborgen werden. Man kann sich vorstellen, was so ein Hubschraubereinsatz kostet. Ist das fair? Nein, es ist nicht fair, die Bauern damit alleine zu lassen. Aber das kümmert niemanden. Da gibt es keine bequeme Straße auf die Alm hinauf, wie viele in ihrer romantisierenden Vorstellung von einer Alm meinen. Auf viele unserer Almen kommt man nur zu Fuß hinauf, wir arbeiten da oben händisch. Morgen findet da oben eine Bergmesse statt – und eigentlich sollte man die toten Tiere als Mahnmal liegen lassen. Da schaut's aus, als wäre das ein Schlachtfeld. Eigentlich sollten alle sehen, was da los ist. (Lisa Nimmervoll, 27.8.2022)