STANDARD: Sie reisen viel, waren aber noch nie in Deutschland und Österreich. Liegt das auch an einer gewissen Abneigung, in einen ehemaligen NS-Täterstaat zu fahren?

Dayan: Natürlich war das ein Grund. Seit ich in Yad Vashem tätig bin, habe ich aber verstanden, dass man es auch anders betrachten kann. Wir können die Geschichte nicht verändern, also kommt es darauf an, wie diese Länder mit ihrer Geschichte umgehen. Deutschland und Österreich haben viel getan, wenn Österreich auch lange gebraucht hat, um damit anzufangen. Jetzt geht es darum, dass es in breiten Gesellschaftsschichten ankommt.

Erst vor wenigen Wochen empfing Dani Dayan (links) als Leiter der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem den österreichischen Bundeskanzler Karl Nehammer. Nun kommt es zum Gegenbesuch in Wien.
Foto: EPA/ABIR SULTAN

STANDARD: Österreich hat Mahnmäler für die Opfer des Holocaust, aber auch viele Denkmäler für undifferenziert als "Helden" gepriesene Soldaten sowie für antisemitische Hetzer. Werden Sie das in Wien ansprechen?

Dayan: Das ist genau das, was ich meine: Es reicht nicht, sich politisch zu bekennen, es muss eine umfassende Atmosphäre der Aufklärung entstehen, ein starkes Geschichtsbewusstsein in der Gesellschaft. Dass Österreich seine offizielle Einstellung geändert hat, ist nur ein erster Schritt.

STANDARD: Die Pandemie ging auch mit Verschwörungstheorien einher, oft fußten sie auf Antisemitismus ...

Dayan: Ja, und auch auf der Verharmlosung des Holocaust. Es sind nicht unbedingt alle Vergleiche von Impfpässen mit Judensternen antisemitisch motiviert, aber dennoch ist das eine schreckliche Trivialisierung der Shoah.

STANDARD: Sich als Opfer von Verfolgung zu bezeichnen und dabei zu sagen "Wir sind die neuen Juden" ist nicht antisemitisch?

Dayan: Es ist vielleicht nicht immer antisemitisch motiviert, aber es ist eine Schändung des Gedenkens an die vielen jüdischen Opfer des Nationalsozialismus. Die Verzerrung der Shoah ist ein Übel, das bekämpft werden muss. Dann heißt es: "Natürlich gab es Gaskammern und Abschussrampen, aber meine Landsleute waren nicht beteiligt." Das ist Geschichtsverfälschung. In praktisch jedem Land, das unter deutscher Besatzung oder unter deutschem Einfluss stand, gab es mehr Kollaborateure der Nazis als Retter der Juden.

STANDARD: Welche Lehren sollten wir aus der Shoah ziehen?

Dayan: Es gibt viele Lehren, die man aus der Shoah ziehen kann, manchmal sind sie sogar widersprüchlich. Der aktuelle Vorsitzende des Yad-Vashem-Beirats ist Rabbi Israel Meir Lau, ein Überlebender des KZ Buchenwald; und sein Vorgänger war der frühere Justizminister Yossef Lapid, auch er ein Holocaustüberlebender. Lapid lernte aus der Shoah, dass Gott nicht existiert. Rabbi Lau lernte aus der Shoah, dass man Gott sein ganzes Leben widmen soll. Wer bin ich, um das zu beurteilen?

STANDARD: Welche Lehren ziehen Sie ganz persönlich?

Dayan: Viele, aber zwei von ihnen teile ich mit all meinen Besuchern in Yad Vashem: Die erste ist die existenzielle Notwendigkeit eines jüdischen Staates. Israel wurde zwar nicht wegen der Shoah gegründet, eher sogar trotz der Shoah. Israel wäre ein viel robusterer, sichererer Staat mit zusätzlichen sechs Millionen Juden und ihren Nachkommen in der Welt. Aber Israel ist jetzt die Garantie, dass das den Juden nicht mehr widerfahren wird. Die zweite Lehre ist, dass man Antisemitismus nie unterschätzen darf. Wenn man ihn wahrnimmt, muss man ihn unverzüglich bekämpfen. Sonst wird man einen hohen Preis dafür bezahlen, und es werden nicht nur Juden sein, die dafür bezahlen.

STANDARD: Antisemitisch motivierte Gewalt zu verhindern, zu ahnden ist Aufgabe von Polizei und Justiz. Wie groß ist hier Ihr Vertrauen in die österreichischen Behörden?

Dayan: Ich muss gestehen, ich bin mit der Situation in Österreich nicht wirklich vertraut. Aber wir sehen, was in Deutschland passiert: Etwa das Attentat auf die Synagoge in Halle an Yom Kippur, das war extrem besorgniserregend. Erziehung reicht nicht aus, es braucht auch strenge Gesetze und deren Vollstreckung.

STANDARD: In Österreich steht NS-Wiederbetätigung unter Strafe. Manche Stimmen fordern eine Reform des Verbotsgesetzes. Wie stehen Sie dazu?

Dayan: Sollte das Gesetz aufgeweicht werden, wäre das ungeheuerlich. Wir sollten nicht vergessen, dass Israel und Österreich auch schwere diplomatische Spannungen hatten, als es um Politiker ging, die mit NS-Gedankengut liebäugelten. Ich bin da sehr klar: Die aktuelle Fassung sollte beibehalten werden. Und zwar nicht Israel und den Juden zuliebe, sondern zum Wohle Österreichs.

STANDARD: Es gab auch in Österreich Industriekonzerne, die aus dem Holocaust Gewinn schlugen. Sollten diese Konzerne mehr tun, um für historische Wahrheit zu sorgen – etwa durch eine Förderung Ihrer Gedenkstätte?

Dayan: Es ist nicht unsere Art, die Schuld von Unternehmen als Hebel für unser Fundraising zu nutzen. Tatsache ist: Es gibt in Deutschland schon Konzerne, die es von sich aus tun. Es muss aus einer inneren Motivation kommen. Wenn jemand glaubt, durch eine Spende an uns sein Gewissen reinigen zu können, ist das der falsche Weg. (INTERVIEW: Maria Sterkl aus Jerusalem, 29.8.2022)