Zart wie Papier: das Service von Ruth Gurvich, das handgeschöpftem Papier nachempfunden ist.

Foto: The Langham Hospitality Group
"Bandleader" ist eine von acht handbemalten Skulpturen aus Nymphenburg-Porzellan, die die Künstlerin Rachel Feinstein bei der New Yorker Kunstmesse Frieze präsentierte.
Foto: Porzellan Manufaktur Nymphenburg

Es scheint wie eine Szene wie aus einer anderen Welt: Mit ruhigen Gesten ziehen erfahrene Hände vorsichtig die Ränder eines Tellers höher, der rotierend auf einer hölzernen Drehscheibe seinem Werden entgegenstrebt. Es ist früher Nachmittag, Tageslicht erhellt die historischen Räume der Porzellan-Manufaktur Nymphenburg (PMN).

Zum berühmten gleichnamigen Schloss mit dem langgezogenen Kanal sind es nur ein paar Hundert Meter. Rund 30 Rohlinge hat Dreher Josef Knipfer heute schon geformt, bedächtig und mit Gefühl. Auch wenn später jeder Teller eine Bodenstärke von 4,8 mm aufweisen wird, wenn er im Regal zum Trocknen aufgereiht wird – kein Stück gleicht exakt dem anderen, somit ist jedes ein Unikat.

"Auf das Drehen und Trocknen folgt das Brennen im Ofen, erst beim Glühbrand mit 950 Grad, dann noch einmal bei 1.400 Grad. Rund 14 Tage Handarbeit stecken in einem solchen Teller", sagt Knipfer, drückt einen Stempel mit der Blindmarke in den noch weichen Tellerboden und dazu ein handgeritztes "J" für Josef. Seit 1976 ist der Geschirrkeramikformer hier beschäftigt. Hier hatte er gelernt als einer der Letzten seines Standes.

Blick auf die Anlage des Nymphenburger Schlosses mit dem Manufakturgelände der Porzellan-Manufaktur Nymphenburg.
Foto: Porzellan Manufaktur Nymphenburg

Qualität im Fokus

Seit der Gründung der Manufaktur 1747 haben sich die Arbeitsschritte des Porzellanmachens nicht wesentlich verändert. Seit damals steht Handarbeit als Qualität im Fokus, also 275 Jahre schon – als gäbe es da draußen keine 3D-Drucker, kein Computerdesign, keine künstliche Intelligenz, keine Massenware aus China, kein Corona.

Bis heute fertigt man hier am Nymphenburger Schlossrondell jene zerbrechlich-filigranen Figuren, Geschirr-Serien und Designobjekte, für die die Manufaktur international bekannt ist. "Ein Drittel unseres Umsatzes machen wir durch Services, ein Drittel mit Kunsteditionen und ein Drittel mit Sonderbestellungen", sagt Sandra Gottwald, seit sechs Jahren Sprecherin der PMN.

Kaolin, Quarz und Feldspat sind die drei Hauptzutaten für das weiße Gold. Was sonst noch hineinkommt, bleibt geheim. Einmal pro Woche wird eine Ladung Masse angemischt und zwei Stunden gerührt, dann durch ein Sieb gestrichen – "noch feiner als Nylonstrümpfe", sagt Gottwald.

Danach ruht die makellose Rohmasse zwei ganze Jahre im sogenannten Mauk-Keller im Untergeschoß. "Zeit ist ein wichtiger Faktor in der Manufaktur", erklärt Sandra Gottwald. "Auch wenn der Brennofen aufgeht, ist es immer eine Überraschung. Man muss ständig überdenken und entwickeln, auch das Tagesklima muss passen, das ist nicht immer bestimmbar. Das Material ist speziell und eigenwillig, es verlangt Gelassenheit im Umgang."

Die Gänse-Ei-Vase ist komplett mit Gold bemalt und von Hand poliert.
Foto: Kathrin Koschitzki

Wie anno dazumal

Wie anno dazumal stellen die Werkstätten die Porzellanmasse selbst her und nutzen dazu die Kraft des Wassers aus dem nahen Schlossbach, diese treibt zum Beispiel die Drehscheiben an. Alles, was rund geformt erscheint, also Teller, Vasen und Schalen, wird als feste Masse an der Drehscheibe geformt, alles, was Ecken aufweist oder Figur werden soll, muss zu "Schlicker" verflüssigt, gegossen und zum Teil aufwendig zusammengesetzt werden.

Die Formen zum Gießen entstehen im Modellsaal. Für die Serie "Lightscape" zum Beispiel, 2009 entworfen von Ruth Gurvich, außen weißes Biskuitporzellan, innen glasiert. Wie gespanntes Papier kommt das Porzellan hier daher, mit hie und da angedeuteten Kanten. Entworfen wurde die Serie tatsächlich in Papier, jene Leichtigkeit strahlen die Entwürfe auch aus.

Verwandlungskünstler

Porzellan – ein Verwandlungskünstler? Ja. Für den, der seine Materialität auszureizen versteht. Allein 700 Tierfiguren gibt es im Archiv, erfahren wir. Maus "Karl" zum Beispiel, ein moderner Zeitgenosse fürs Eigenheim, entworfen von Wilhelm Neuhäuser.

Tischleuchte "Colo" vom Studio Faubel mit rauchgrauem Glasfuß.
Foto: Wei Ling Khor

Im Farblabor werden die Töne angemischt, allein 300 Nuancen Grün gibt es. "Das letzte Brennen verändert den aufgetragenen Ton. Das gilt es durch jahrelange Erfahrung richtig abzuschätzen", erklärt Gottwald. Richtig kontemplativ wird es dann in der Malerei im ersten Stock, ein heller Saal mit aneinandergereihten Tischen, flankiert von langen Regalen mit künftigen Preziosen.

"Ein Jahr dauert es ungefähr, bis man eine Farbe richtig anmischen kann", sagt Aline, die sich nach ihrer 3,5-jährigen Ausbildung heute Porzellanmanufakturmalerin nennen darf. Sie mischt Pigmente, Terpentin, Nelkenöl oder 24 Karat Gold an, um beispielsweise eine schmückende Goldstaffage an einem Teller anzubringen, die die Form des Materials nachahmt – mit einem Pinsel aus Fehhaar vom sibirischen Eichhörnchen.

Verlinkung zur Kunst

Entwürfe aus drei Jahrhunderten, von Rokoko über Jugendstil bis hin zu zeitgenössischem Design.
Foto: Porzellan Manufaktur Nymphenburg

Ein paar Tische weiter bemalt eine Kollegin einen "Blauen Panther", irdenes Symbol für den Bayerischen Fernsehpreis. Auch die "Corine", Trophäe des Bayerischen Buchhandels, gewinnt hier buchstäblich an Farbe. Ursprünglich eine Figur der Commedia dell’Arte, erinnert die Statue an den ersten großen Porzellankünstler, welcher der Manufaktur zu frühem Ruhm verhalf: Franz Anton Bustelli (1723–1763) schuf als Figurist und Bildhauer des Rokoko rund 150 Figuren, 16 davon stammen aus besagter Commedia dell’Arte.

Damit begründete Bustelli die Verlinkung zur Kunst, die bis heute besteht. Auf ihn folgte Dominikus Auliczek, der rund 100 Figuren kreierte, ein ganzes Stück später dann Josef Wackerle, der den kreativen Kosmos mit Majolika-Gartenfiguren und Ziervögeln bereicherte – rund 600 Porzellankünstler und -arbeiter aus allen Perioden sind bis nach 1945 namentlich erfasst.

Zugleich Labor und Atelier

Josef Knipfer, Leiter der Dreherei, beim Ablösen eines Teller-Rohlings.
Foto: Franziska Horn

Bis heute sind die Werkstätten zugleich Labor und Atelier, wo in Kooperation mit internationalen Kreativen neue Modelle entstehen. 75 Mitarbeiter beschäftigt die Manufaktur heute. Ihre Geschichte ist von jeher mit dem bayerischen Königshaus Wittelsbach verbunden.

Seit 1999 liegt der Fokus verstärkt auf zeitgenössisch-avantgardistischen Formen, geschaffen von Hella Jongerius oder Konstantin Grcic, Ted Muehling, Kiki Smith oder Carsten Höller, Damien Hirst oder Rolf Sachs, Vivienne Westwood oder Nick Knight, der Kate Moss als geflügelten Engel in Porzellan bannte.

Im Interior-Bereich überrascht die alte Handwerkskunst mit Accessoires wie artifiziellen Fliesen, Waschbecken, Kronleuchtern – oder Kaschmirkamm "Frytz", entstanden in Kooperation mit dem Label Allude.

Unglaublich vielseitig

Am Ende des illustren Rundgangs wissen wir: Porzellan kann unglaublich viel. Es kann schimmern, scheinen, leuchten oder glänzen. Es kann sich matt zurücknehmen und das Augenmerk dezent auf die Form lenken. Es begegnet einem als Suppenteller, Vogelnest, Kronleuchter oder Pinguin.

Freunde schlichter Formen werden sich für "The White Doves" von Michael Pendry begeistern, für Tischleuchte "Colo" von Studio Faubel oder für die hauchzarte Lampe "Gentiana Alba", die für die Stube der historischen Falkenhütte im Karwendel entwickelt wurde, ebenfalls mit Studio Faubel.

Karaffe aus der "Lightscape"- Kollektion. Ihr Henkel ist streng geometrisch und trägt eine Trompe-l’oeil-Bemalung.
Foto: Kathrin Koschitzki

Minimalisten mögen die Ei-Vasen von Ted Muehling, artsy Fans bevorzugen die limitierte Edition "Bandleader" von Rachel Feinstein, eine Persiflage auf den Hype rund ums Wäschelabel Victoria’s Secret, so man will.

Irdene Überraschung

Beim Rundgang durch den Flagshipstore am Schlossrondell bietet sich die eine oder andere irdene Überraschung. Richtig staunen wird, wer sich ein Stay-over im benachbarten Kavaliershaus am Schlossrondell leisten kann. Die 2020 eröffnete The Langham Residenz Nymphenburg ist illustrer Showroom und Münchens feinste Nobelherberge zugleich.

Bis zu zwölf Personen können hier im Herrenhaus aus dem 18. Jahrhundert logieren, auf drei Etagen mit 836 Quadratmetern, die als Ganzes zu buchen sind – ein Biotop Nymphenburger Porzellankunst, das all die Objekte, Skulpturen, Tierfiguren und Tableware aus den benachbarten Werkstätten in einen lebensechten Kontext setzt.

Spätestens bei einer "Lithophanie" – eine Ansicht vom Tegernsee – werden die allerletzten Porzellan-Ketzer ins Grübeln gebracht: In einem hölzern ausgekleideten Spa besticht die einem altertümlichen Stich ähnelnde Perspektive auf den bayerischen Edelsee mit hochklassiger Könnerschaft.

In einem Verfahren, das älter als die Fotografie ist und im Ergebnis nur 0,25 mm an der dünnsten Stelle misst. So wird das eigentlich opake Material als Relief zum Leuchten gebracht und vermittelt dreidimensionale Qualitäten. Was Porzellan nicht alles kann. (Franziska Horn, RONDO, 2.9.2022)