Rachefeldzug zwischen Ost und West: Jella Haase als DDR-Agentin in der achtteiligen Netflix-Serie "Kleo".

Foto: Netflix

Als Chantal in "Fack ju Göhte" wurde sie 2013 schlagartig berühmt, für die Darstellung einer regimekritischen DDR-Schauspielerin erhielt sie gerade den Deutschen Filmpreis: Jella Haase ist wandelbarer, als viele vermuten. Nun hat sie ihre erste Netflix-Serie bekommen. In "Kleo" muss sie sich als ehemalige Stasi-Agentin ihrer Vergangenheit stellen. Eine knallbunte Tour de Force im roten Trainingsanzug – mit teilweise absurdem Charme.

STANDARD: Frau Haase, Ihre letzten großen Projekte behandeln DDR-Geschichte, zuerst der Kinofilm "Lieber Thomas" über den dissidenten Schriftsteller Thomas Brasch, nun die Netflix-Serie "Kleo". Sie sind 1992 im Westen Berlins geboren. Wie hat man Ihnen als Kind die DDR nahegebracht?

Haase: Ich erinnere mich an Autofahrten mit meiner Mutter durch Ostberlin. In den 90er-Jahren habe ich Eiskunstlauf gemacht, die großen Hallen standen alle im Osten, da sind wir von Kreuzberg nach Hohenschönhausen gefahren, und meine Mutter sagte an der Oberbaumbrücke: Hier stand die Mauer, dort war die Grenze! Was, wo? Ich konnte damit gar nichts anfangen. Als Kind habe ich das nicht verstanden. Das war wie eine Märchengeschichte aus einem anderen Land.

STANDARD: Wie haben Sie sich vor den Dreharbeiten mit der Zeit beschäftigt?

Haase: Ich habe Bücher gelesen, bin ins Archiv gegangen, habe mir Interviews von Zeitzeugen angesehen. In meinem Umfeld habe ich Menschen befragt. Meine Spracherzieherin arbeitet an der "Ernst Busch", das war früher die Schauspielschule der DDR. Sie hat eine ganz andere Sozialisierung erlebt und konnte mir viel erzählen, was ich nicht wusste.

STANDARD: Was fanden Sie am absurdesten?

Haase: Ich habe letztens erst gehört, dass ganz bewusst nur Rentner in den Westen reisen durften. Dass der DDR eigentlich egal war, ob die wiederkommen, weil sie für die Produktion nicht mehr nützlich waren. Das war wie eine Rentnerverschickung, fand ich ein bisschen lustig. Nach den Drehs musste ich mein Stadtgefühl revidieren. Dieses Selbstbewusstsein: Ich kann mich überall in der Stadt frei bewegen. Aber nee, der Alexanderplatz lag historisch im Osten. Seit Kindheitstagen liebe ich den Fernsehturm, der gehört zu meinem Berlin-Bild dazu. Dass der früher gar nicht Teil der Westidentität war und schwer zugänglich für Wessis, finde ich krass.

STANDARD: Ihre Vorbilder heißen Katarina Witt und Nina Hagen, zwei Frauen mit DDR-Vergangenheit.

Haase: Katarina Witt steht für mich für Disziplin, aber auch für Grazie und Anmut. Nina ist für mich die radikale Befreiung in allen Bereichen. Sie hat alles anders gemacht und gesprengt. Wie die in den Interviews war! Wenn sie anfängt zu reden und Sachen über Muschis erzählt, habe ich das Gefühl, die Leute verstehen überhaupt nicht, was da gerade passiert. Die können das nicht einordnen, haben keine Schablone dafür. Total irre! Beide ganz große Künstlerinnen, ich habe die nicht bewusst gewählt, weil sie Ossis sind.

STANDARD: Das Wort hat man in den 90er-Jahren oft verwendet, um DDR-Bürger zu unterscheiden.

Haase: Ich sage es immer noch: Wessi, Ossi, voll normal.

STANDARD: Früher galt es als Schimpfwort.

Haase: Ich glaube, da gibt es mittlerweile einen Stolz, das umzudeuten, eine Mentalität, seine Herkunft vor sich herzutragen. Gerade habe ich mit einer Regisseurin aus Brandenburg darüber gesprochen, die hat mir erzählt, wie sich das in ihrem Dorf umkehrt, dass sich die Leute dafür nun auf die Brust klopfen.

STANDARD: Vor ein paar Jahren haben Sie einige Semester Geschichte studiert und fanden die Ära des Kommunismus interessant. Was fasziniert Sie daran?

Haase: Wie sich Systeme bilden, Gesellschaften funktionieren, die Möglichkeit geschaffen wird, dass sich ein Wertebild auf eine Masse überträgt. Grundsätzlich standen sich in den 80er-Jahren zwei unterschiedliche Ideologien gegenüber. Der Kommunismus hat verloren, der Kapitalismus überlebt. Dessen Grundannahme, mit der wir leben – dass wir immer mehr brauchen, dass es höher, schneller, weiter gehen muss –, da merken wir gerade, dass uns das nicht glücklich macht. Ganz im Gegenteil. Wir stehen vor einer Klimakatastrophe. Ich finde, wir müssen differenziert betrachten, was man aus unterschiedlichen Systemen lernen kann. Was sind die besten Ideen daraus? Was wäre vielleicht ein neues System? Wäre so was denkbar? Der Kapitalismus im Moment ist jedenfalls nicht das Gelbe vom Ei, das ist so was von klar.

STANDARD: Was können wir Ihrer Meinung nach mitnehmen vom Sozialismus?

Haase: Grundsätzlich fände ich eine Form von Reglementierung sinnvoll. Ich bin beispielsweise mit einem anderen Bewusstsein aufgewachsen als meine Mutter. Sie hatte in meinem Alter drei Jeans, und die hat sie ihr Leben lang getragen. Darauf müssen wir uns zurückbesinnen: eh, ich brauch einfach weniger.

STANDARD: Weg mit der Maßlosigkeit!

Haase: Zum Teil, ja. Ich gehe oft und gern "fastenwandern" im Schwarzwald. Sieben Tage in der Natur. Morgens verlasse ich die Unterkunft, ziehe los, bleibe den ganzen Tag draußen, halte Ruhephasen ein, abends kehre ich zurück, trinke einen Saft und esse eine Brühe. Das bedeutet erst einmal Verzicht – und der ist in unserer westlichen Gesellschaft negativ konnotiert. Dabei kann er viel geben. Ich merke dabei, wie wenig ich eigentlich brauche, wie gut es mir geht. Das ist eine Reinigung für Körper und Seele, ich werfe Ballast ab, trage Schicht für Schicht ab, bis ich zu meinem Kern vordringe. Von dieser Rückbesinnung auf das Nötigste haben wir uns total entfremdet.

STANDARD: Im Lockdown haben Sie an sich festgestellt, dass Sie einen Kapitalismus an Ihrer Seele betreiben: so viel wie möglich so gut wie möglich in einen Arbeitstag zu packen. Schlummert eine kleine Sozialistin in Ihnen?

Haase: Ich bewerte die Gesellschaft, in der wir leben, einfach kritischer. Ich habe bemerkt, dass ich schon in meinen Verabredungen effizient sein will und mir Freizeitstress aufbürde. Da frage ich mich: Woher kommt das? Bin nur ich das? Oder überträgt sich da ein System auf mich? Das finde ich erschreckend. Diese Idee, dass ich viel brauche, um glücklich zu sein, das ist ja eingepflanzt, nicht im Menschen verankert.

STANDARD: Solche Gedanken stoßen bei Ihnen auf fruchtbaren Boden. Sie kommen aus einem eher linken Haushalt.

Haase: Trotzdem merke ich, dass meine Eltern noch ein anderes Selbstverständnis haben, mir fallen bestimmte Sachen schwerer. Sie hatten schon immer eine grüne Denke: Licht ausmachen, Müll trennen, wenig wegwerfen.

STANDARD: Was als Kind natürlich nervt.

Haase: Total. Doch jetzt merke ich, sie haben recht. Und ich frage mich, woher das kommt, dass das bei mir nicht so ist? Ist das charakterlich oder Teil der Entwicklung und des Systems, in dem ich lebe? Ich weiß es nicht.

STANDARD: In Interviews haben Sie gesagt, dass Sie als Hippie großgeworden sind. In "Kleo" wird ordentlich geprügelt, geschossen, gemordet. Können Sie ausschließen, dass menschliches Leid für Sie einen Unterhaltungswert hat?

Haase: Absolut nicht. Weil ich der schadenfrohste Mensch auf dieser Welt bin. Wenn Sie sich jetzt den Kopf stoßen würden, wäre das für mich schon die halbe Miete. Irre lustig.

STANDARD: Könnten Sie sich mit einer Maschinenpistole gut behaupten, würde es die Situation erfordern?

Haase: Ehrliche Antwort: ja.

STANDARD: Haben Sie während der Dreharbeiten gelernt, sich selbst zu verteidigen?

Jella Haase widmete sich schon als Kind dem Schauspiel. Den Durchbruch hatte sie 2013 als Chantal in der Komödie "Fack ju Göhte", 2021 gewann sie den Deutschen Filmpreis.
Foto: Netflix / Timothy Schaumburg

Haase: Es gab auf jeden Fall ein paar geile Griffe, die ich mir gemerkt habe. Wie man jemanden von hinten festhält, sodass er sich nicht mehr befreien kann. Jetzt könnte ich anders in Notsituationen reingehen. Wenn ich mich unsicher fühle, denke ich wirklich: Was würde Kleo tun? Oder beim Joggen, wenn ich mich beim Sport anstrenge, kommt Kleo wieder. Die spüre ich noch im Körper. Das ist eigentlich ein physischer Zustand, so eine ganz dolle Anspannung. Nach "Kleo" habe ich richtig Zeit gebraucht, um wieder in den Zustand von Jella zurückzukommen. Monate danach habe ich Emotionen gehabt, bei denen ich mich nicht wieder eingefangen habe, so blöd gesagt. Ich wusste nicht mehr, welche Gefühle gehören jetzt zu mir, welche denke ich mir aus und sind ein Nachhall von dem, was ich als Figur gefühlt habe? Das war ein bisschen unheimlich.

STANDARD: Isabelle Huppert sagt: "Die meisten Schauspieler sind sehr untreu ihren Figuren gegenüber. Sie verlassen sie in dem Moment, in dem die letzte Klappe gefallen ist."

Haase: Da halte ich Hannah Arendt dagegen: "Nur das, dem man ganz bis zum Schluss treu ist, ist wahrhaftig."

STANDARD: Spüren Sie bei Ihrer Arbeit noch, dass Sie morgens die Rüstung eines Erwachsenen anlegen, oder ist das Kind in Ihnen tot?

Haase: Ich spüre die krass angelegte Rüstung. Aber das Kind in mir ist einfach viel stärker – und schlägt sich aus dieser Rüstung raus. Es schreit, macht richtig Palaver.

STANDARD: Kann man gut am Theater ausleben. Sie haben gerade zwei Jahre Volksbühne hinter sich. Jemals erlebt, dass jemand aus einem Stück gekommen ist und gesagt hat: Ich wünschte, es hätte länger gedauert?

Haase: Ja, ich in Basel. Dreieinhalb Stunden Ovids "Metamorphosen" von der Basler Compagnie. Selbst in der Pause habe ich gejammert: Nee, ich will keine Pause, sondern dass es weitergeht. Ich wollte einfach nicht rausgehen.

STANDARD: Einmal spielen Sie eine aufmüpfige Künstlerin, ein andermal eine Rechtsextreme, Linksradikale, nun eine durchgeknallte Ex-Agentin – Figuren an der Grenze zur Illegalität. Flirten Sie damit, um im selben Leben vernünftig zu sein?

Haase: Ich glaube einfach, dass diese Figuren mich was lehren können. Sie erinnern mich ans Auflehnen.

STANDARD: Halten Sie sich für vernünftig?

Haase: Kommt drauf an, aus welcher Perspektive man das beurteilt.

STANDARD: Was würde Ihre Mutter sagen?

Haase: Wollen wir sie anrufen? Mal gucken, ob sie rangeht. (Sie schaltet das Handy und den Lautsprecher ein.) Mama, hallo? Kannst du bitte ganz intuitiv antworten: Bin ich vernünftig? Die Mutter antwortet: Es gibt vernünftigere Menschen, aber prinzipiell: ja. (Ulf Lippitz, RONDO, 5.9.2022)