Die Industrie fürchtet ein Gas-Embargo, auch die explodierenden Stromkosten werden zusehends ein Problem.

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Die Zahlen sind atemberaubend. Der jüngste Anstieg an den Strombörsen hat dazu geführt, dass Strom aktuell 20-mal so teuer ist als noch vor einem Jahr. Angenommen, die Preise blieben auf diesem Niveau, würden sich die Ausgaben für Strom in Deutschland im kommenden Jahr auf rund 500 Milliarden Euro summieren, rechnet der deutsche Energieökonom Lion Hirth von der Hertie School in Berlin vor. Die Ausgaben von Haushalten, Unternehmen und des Staates für Strom würden dann 13 Prozent der deutschen Wirtschaftsleistung (BIP) entsprechen. Vor der aktuellen Krise waren es ein Prozent.

Beim Gas ist die Entwicklung ähnlich: Die Gesamtausgaben in Deutschland sollen demnach auf 300 Milliarden Euro oder acht Prozent der Wirtschaftsleistung steigen. Sprich: Allein für Strom und Gas müsste Deutschland statt 1,5 gut 21 Prozent seiner Wirtschaftsleistung aufwenden.

20 Prozent für Strom und Gas?

Diese Zahl ist nur eine grobe Schätzung, aber Hirth spricht auf dem Kurznachrichtendienst Twitter von einem "Tsunami", der auf uns zukomme. Für Österreich gibt es noch keine ähnliche Rechnung. Aber sicher ist, dass diese Welle auch uns treffen wird. Vielleicht sogar härter. Die Wirtschaftsstruktur ist jener in Deutschland ähnlich, und in Österreich haben die Strompreise zuletzt sogar stärker angezogen als in der Bundesrepublik.

Die Frage, die Ökonominnen und Ökonomen angesichts der Entwicklung zusehends beschäftigt, lautet, was mit dem Wohlstand geschehen würde, wenn wir auf einmal einen so großen Teil unseres erwirtschafteten Einkommens tatsächlich für Energie ausgeben müssen? Wie schwer wird der ausgelöste wirtschaftliche Schock sein?

In den vergangenen Monaten haben sich Wirtschaftsforscher vor allem Gedanken dazu gemacht, was passiert, wenn Russlands Staatschef Wladimir Putin den Gashahn zudrehen sollte. Das Forschungsinstitut Wifo kommt in einer neuen Analyse zu dem Ergebnis, dass bei einem Lieferstopp Österreich im kommenden Jahr in eine Rezession rutschen würde. Das Embargo würde vier Prozentpunkte an Wachstum kosten und die Inflation auch im kommenden Jahr auf 9,4 Prozent hochtreiben. Derzeit werden etwa fünf Prozent Inflation vorhergesagt.

In dieser Berechnung wird aber nur darauf abgestellt, wie sich ein Gas-Embargo und ein Stopp von Erdöllieferungen aus Kasachstan auswirken würde. Wie sich in der Folge der Strompreis entwickelt, wird hier wie in den meisten anderen ähnlichen Analysen nicht oder kaum berücksichtigt. Alles andere würde die Rechnung durch weitere Annahmen komplexer machen.

Aber die Entwicklungen der vergangenen Tage und Wochen haben zwei Dinge deutlich werden lassen: Erstens ist gar kein Embargo notwendig, um den Gaspreis in lichte Höhen zu treiben. Zweitens aber zieht der Anstieg beim Gaspreis auch den Strompreis mit. Die Gründe dafür sind vielfältig: Ein Teil der Stromerzeugung funktioniert mit Gas. Dazu kommt, dass sich auf Märkten wie immer, wenn Knappheit herrscht, eine Eigendynamik entwickelt, Marktspekulation also die Preise weiter treibt. So oder so: Der Strompreis schnellt hoch. Vergangene Woche haben sich Stromlieferungen für 2023 an der Strombörse um 54 Prozent verteuert.

Vieles deutet inzwischen darauf hin, dass selbst ohne ein Gas-Embargo eine Rezession droht, wenn die Preise auf diesem Niveau bleiben. Wenn nur Gas ausbleibt, trifft das vor allem Industriebetriebe, die Gas in der Produktion einsetzen: die Chemie-, Metall-, Glas- und Papierindustrie. In Österreich gibt es etwa 60 große Unternehmen, die direkt von Gaslieferungen abhängen.

Natürlich beliefern diese Firmen hunderte andere Unternehmen, ein Gas-Embargo hätte also breitere und gravierende Folgen. Explodierende Stromkosten treffen aber sogleich alle direkt: Jedes Unternehmen braucht Strom, ob nun der Lebensmittelhandel, Hotels, Restaurants oder eine Möbelkette. Eine Verzwanzigfachung der Strompreise müssten die Betriebe erst einmal schultern. Wer die hohen Preise nicht an Kunden weitergeben kann, hätte wenig Chancen zu überleben. Die hohen Energiepreise würden aber auch zu einem starken Kaufkraftverlust der Haushalte führen, die weniger konsumieren können.

"Dann sind wir kaputt"

Sollten die Preise für Strom so hoch bleiben, "dann sind wir kaputt", sagt der frühere Kanzler Christian Kern, der lange Zeit im Verbund-Vorstand saß, salopp. Deshalb fordert er eine sofortige Intervention des Staats in den Strommärkten, bis hin zu einer staatlichen Preisfestsetzung.

Die EU-Kommission arbeitet inzwischen tatsächlich an einem Mechanismus, um die Preise an den Strommärkten einzudämmen. Wie effektiv das sein wird, bleibt abzuwarten.

Energiemarktexperte Lukas Stühlinger vom österreichischen Beratungsunternehmen Fingreen sagt, dass immerhin noch ein wenig Zeit bleibe. Als Faustregel gelte, dass höhere Strompreise an den Börsen etwa ein bis eineinhalb Jahre später voll bei Kundinnen und Kunden durschlagen. Größere Unternehmen schließen zum Beispiel meist für drei Jahre Lieferverträge ab. Die aktuell hohen Preise voll abbekommen wird also zunächst nur, wer das Pech hatte, seinen Vertrag schon 2019 unterzeichnet zu haben. Aber das werden Monat für Monat mehr Betriebe.

Das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft in Köln sah schon Mitte August Deutschland in eine Rezession taumeln, und zwar auch ohne Gas-Embargo – wenn die Energiepreise weiter steigen würden. Die Preise haben in der Zwischenzeit angezogen. (András Szigetvari, 30.8.2022)