Francis Seeck: "Einkommensreichere Familien versuchen ihre Klassenprivilegien für ihre Kinder zu sichern."

Foto: Lotte Ostermann

Als Kind einer alleinerziehenden, erwerbslosen Mutter erlebte Francis Seeck schon früh die Auswirkungen der Klassengesellschaft. Heute lehrt Seeck zu Klassismus und sozialer Gerechtigkeit und bietet Antidiskriminierungstrainings an. Obwohl es sich bei Klassismus um eine weit verbreitete Form der Diskriminierung handelt und er durch Studien vielfach belegt ist, fällt die Abwertung erwerbsloser Menschen oder sogar schon von Kindern von erwerbslosen Eltern oder von Eltern mit stigmatisierten Berufen vielen nicht auf. Aufgrund von Klassismus diskriminierten Menschen wird der "Zugang verwehrt", wie auch der Titel des aktuellen Buches von Francis Seeck heißt: der Zugang zu Gesundheit, Bildung, Geld und ein grundlegendes Gefühl von Sicherheit.

STANDARD: Was ist Klassismus?

Seeck: Klassismus beschreibt die Diskriminierung aufgrund von sozialer Herkunft und Position. Klassismus richtet sich gegen Menschen aus der Armuts- oder Arbeiter:innenklasse, zum Beispiel einkommensarme, erwerbslose und wohnungslose Menschen. Klassismus hat Auswirkungen auf die Lebenserwartung und begrenzt den Zugang zu Wohnraum, Bildungsabschlüssen, Gesundheitsversorgung, Macht, Netzwerken, Teilhabe, Anerkennung und Geld.

STANDARD: Wie etabliert ist der Begriff Klassismus derzeit?

Seeck: Der Begriff Klassismus ist noch nicht so bekannt wie Sexismus und Rassismus. Klassismus ist größtenteils auch noch nicht in das Antidiskriminierungsgesetz eingegangen. Trotzdem erlebe ich bei Veranstaltungen, dass Leute sagen, den Begriff kannten sie noch nicht, aber wenn sie erfahren, was klassistische Diskriminierung ist, dann sagen sie: Ja, das kenne ich sehr gut.

STANDARD: Im akademischen Feld scheint es so, dass praktisch alle, die zu Klassismus forschen, selbst Klassismus erfahren mussten.

Seeck: Ja, das stimmt. Der Begriff Klassismus kommt auch nicht aus der Universität, sondern aus sozialen Bewegungen, und ist deshalb auch noch kein etabliertes Forschungsfeld. Über Klassismus und Klassenunterschiede wurde bereits in den 1970ern und 1980ern in feministischen und lesbischen Bewegungen gesprochen, angestoßen durch Gruppen wie die "The Furies" oder die "Prololesben". Klassismus ist jedoch keinesfalls ein neuer Begriff, in der Breite wurde er aber nicht zur Kenntnis genommen.

STANDARD: Der Begriff Klassismus setzt schon die Annahme voraus, dass wir in einer Klassengesellschaft leben. Viele würden aber wohl viel mehr von einer Leistungsgesellschaft sprechen.

Francis Seeck, "Zugang verwehrt. Keine Chance in der Klassengesellschaft: wie Klassismus soziale Ungleichheit fördert". 9,30 Euro / 126 Seiten, Atrium, Hamburg 2022
Foto: Atrium Verlag

Seeck: Die Leistungsgesellschaft ist ein Mythos. Das merken aktuell mit den steigenden Preisen und der aufgehenden Schere zwischen Arm und Reich immer mehr Menschen. Das sehen wir auch an der Verteilung der Vermögen: In Deutschland, Österreich und der Schweiz wird mittlerweile fast die Hälfte der Vermögen vererbt. Das ist Vermögen, das nicht durch eigene Lohnarbeit zusammenkommt, sondern über Erbschaften – und ob man Erbe wird oder nicht, das ist Glückssache. In Deutschland besitzen die oberen zehn Prozent 65 Prozent des Gesamtvermögens und die Hälfte der Bevölkerung nur ein Prozent. Dies gilt ebenso für Österreich. Dort besitzen die einkommensärmeren 50 Prozent der Haushalte gemeinsam nur 2,5 Prozent des Gesamtvermögens.

Auch die Möglichkeit, Matura zu machen und zu studieren, hängt in unserem Bildungssystem maßgeblich davon ab, in welcher Familie man geboren wurde – und nicht von der Leistung. Auch von der Klimakatastrophe sind einkommensarme Menschen am meisten betroffen. Die Forschung zu all dem spricht eine klare Sprache: Wir leben in einer Klassengesellschaft.

STANDARD: Das Thema Klasse kam in den letzten Jahren verstärkt durch Literatur aus Frankreich nach Deutschland und Österreich. Es hat somit schon vor den Teuerungen eine gewisse Hinwendung zu dem Thema Klasse gegeben. Haben Sie eine Erklärung dafür?

Seeck: Die soziale Ungerechtigkeit steigt, und das zeigt vielen, dass wir eine ausgleichende Sozialpolitik brauchen. Viele Menschen haben inzwischen erlebt, dass auch sie in die Armut rutschen könnten, und es gibt immer mehr prekäre Beschäftigungsverhältnisse. In den vergangenen Jahrzehnten wurde der Sozialstaat abgebaut, und damit geht auch Hetze und Stimmungsmache gegen Menschen, die Sozialleistungen beziehen, einher. Eine Unterform von Klassismus ist die Erwerbslosenfeindlichkeit. Der Hass gegen Menschen, die Grundsicherung beziehen, ist sehr verbreitet.

STANDARD: Wie sieht Klassismus aber auf einer strukturellen Ebene aus?

Seeck: Klassismus ist zum Beispiel in der Stadtplanung verankert. Aus vielen Innenstädten werden obdachlose Menschen vertrieben. Bänke im öffentlichen Raum werden so gebaut, dass es unbequem oder unmöglich ist, darauf zu schlafen oder sich länger darauf aufzuhalten. Oder denken wir an Konsumverbote an Plätzen, von denen einkommensarme Menschen vertrieben werden sollen. Unser Gesundheitssystem ist so gebaut, dass reichere Menschen durchschnittlich zehn Jahre länger leben als arme. Dies liegt auch daran, dass einkommensarme Menschen oft Arbeiten ausüben, die gesundheitsschädlich sind.

Und wie schon erwähnt: Im Bildungssystem ist soziale Herkunft ausschlaggebend, und einkommensreichere Familien versuchen ihre Klassenprivilegien für ihre Kinder zu sichern: dass ihre Kinder den einfacheren Zugang zum Abitur bekommen, zu einem Studium – auch durch den Ausbau von Privatschulen und privaten Hochschulen.

STANDARD: Was macht das mit Kindern und jungen Menschen?

Seeck: Menschen, die von Klassismus nicht betroffen sind, haben ein Gefühl der Sicherheit. Dieses Gefühl haben Kinder aus einkommensarmen Familien nicht. Es kann auch Scham verursachen, wenn Eltern stigmatisierte Berufe ausüben oder erwerbslos sind und ihnen andere vermitteln, dass diese nicht okay wären. Schüler:innen, die bei Ausflügen nicht mitfahren können oder sich an andere Aktivitäten nicht beteiligen können, sind auch oft von Mobbing betroffen.

STANDARD: Warum ist es noch immer für so viele selbstverständlich, abwertend von "Proleten" oder "Sozialschmarotzern" zu sprechen?

Seeck: Klassismus ist in unserer Sprache verankert. Mit Worten wie "arbeitsscheu" oder "asozial" wurden im Nationalsozialismus jene Menschen für minderwertig erklärt, die im Rahmen der sogenannten Aktion "Arbeitsscheu Reich" in Konzentrationslager eingewiesen und systematisch ermordet wurden. Trotzdem werden die Begriffe noch heute verwendet. Dies liegt auch daran, dass die nationalsozialistische Verfolgung von Bettler:innen, Jugendlichen aus Heimen und wohnungslosen Menschen bis heute kaum aufgearbeitet ist. Nach wie vor gibt es für diese Opfergruppe keine offizielle Gedenkstätte.

Klassismus ist eine ignorierte Form der Diskriminierung, für die viele Menschen gar kein Bewusstsein haben und wo sie die Wirkmacht der Abwertung nicht sehen können. Es wäre Gegenrede wichtig, wenn jemand "Proll" sagt. Aber es fängt auch schon bei Begriffen wie "bildungsfern" oder "sozial schwach" an, die ebenso Vorurteile transportieren.

STANDARD: Was könnten Schulen tun, um Kinder vor Klassismus zu schützen?

Seeck: Man muss etwa in der Schule nicht besprechen, wo die Kinder auf Urlaub waren oder was sie denn alles Tolles in den Ferien erlebt hätten. So wird schnell deutlich, welches Kind eine Reise gemacht hat und welches zu Hause war und auf Geschwister aufpassen musste. Das ist ein Beispiel für eine Norm, dass immer davon ausgegangen wird, dass alle Kinder verreisen können. Oder denken wir an die hohen Kosten von Schulmaterialen oder auch Ausflüge, bei denen man schauen könnte, dass sie nicht teuer sind. Außerdem wäre es für Lehrende sehr wichtig, zu überlegen, welche Schulempfehlungen sie geben, warum und welche Vorteile da womöglich eine Rolle spielen. Und generell sollte man sich für die Gesamtschule einsetzen und die unterschiedlichen Schultypen wie Gymnasium, Hauptschulen oder Mittelschulen abschaffen. Genauso wie Privatschulen. (Beate Hausbichler, 30.8.2022)