Ein postkolonialer Weltliterat und gelernter Psychiater: António Lobo Antunes, Meister der Stimmführung, wird am 1. September 80 Jahre alt.

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Die Niederschrift seiner ellenlangen Romane – es sind bis jetzt 27 an der Zahl – nennt der Romanautor António Lobo Antunes bezeichnenderweise ein "Schreiben ohne Kondom". Im Arztkittel, mit nichts als einem Stift und ein paar DIN-A5-Zetteln bewaffnet, setzt sich der Psychiater noch immer jeden Morgen in seiner Ordination an den Schreibtisch.

Tagtäglich, während endloser Zwölf-Stunden-Schichten, entstehen so die für Antunes charakteristischen langen Satzketten. Für ihn selbst sind es Schlingen: Ranken eines wild wachsenden Prosadschungels. In Wahrheit misst sich diese Methode der Vergangenheitsbewältigung an keiner geringeren Gewalt als der des Atlantiks. Wie Wellen brechen die Suaden von Antunes' Figuren über die Leserinnen herein. Häufig genug fallen sich diese Verlierer, psychisch versehrt, moralisch gescheitert, selbst ins Wort.

Durchwegs handelt es sich dabei um Verlustanzeigen, Protokolle des Niedergangs, die Portugals einstmals "strahlende Größe" als Lügengebilde enttarnen. Errichtet wurde die Mär von der gottgefälligen Weltmacht auf dem Leid der Kolonisierten: jener Angolaner, denen Antunes als Arzt und Sendbote der Unterdrücker in ihrer afrikanischen Heimat begegnete. Der junge Nervenarzt obduzierte vor Ort Leichen. Wurde unfreiwilliger Zeuge ungezählter Bombardements und Gewaltexzesse, zu schweigen von der Verschleppung von Menschen, vom fortgesetzten Elend der nach Lissabon und Porto Vertriebenen.

Psyche der Täter

Was der selbstauferlegte Zwang zur Gewalt in der Psyche der Täter anrichtet, davon handelte bereits Antunes’ Romanerstling Elefantengedächtnis (1979). Mit nicht nachlassender Akribie ist seither eine unvergleichliche "tragédie humaine" entstanden, angesiedelt auf den Trümmern und Gesinnungsresten, die die 1974 durch die "Nelkenrevolution" gestürzte Salazar-Diktatur hinterlassen hat.

Bereits in Der Judaskuss (wiederum 1979) hatte António Lobo Antunes seine Methode zur frühen Perfektion getrieben. Ein Veteran überwältigt sein Gegenüber, eine Prostituierte, in einer Lissabonner Bar, indem er sie mit der Fülle seiner Erlebnisse zum Schweigen bringt.

Dieser Weltliterat, der sich selbst als Schüler von Sartre, Hemingway, Camus, Faulkner und Tolstoi bezeichnet, hat die Literatur seines Landes "dekolonisiert", lange bevor dieses Wort durch die postkolonialen Hörsäle spukte.

Angola, bis 1975 kolonisiert, nimmt, als Synonym unsühnbarer Schuld, einen zentralen Platz in Antunes’ Welt ein. Als "übler Ort am Rand der Wüste" ist es "weit weg" von allen Europäern, doch zugleich "ganz in der Nähe". In das Konzert der von Antunes heraufbeschworenen Stimmen mischt sich das Heulen der "Hunde von Chiúme". Immer ist es eine existenzielle Pein, die Täter und Opfer scheinbar unterschiedslos durcheinanderwürfelt.

Unangenehme Aussprachen

Ex-Minister der Diktatur, Angehörige der portugiesischen Elite, Büttel der politischen Polizei BIDE, aber auch die missratenen Kinder der Mörder: Sie alle liegen sterbend und Rechtfertigungen wispernd neben ihren einstigen Dienstboten und Geliebten (Das Handbuch der Inquisitoren). Die Familienangehörigen der Unterdrücker versammeln sich zu unangenehmen Aussprachen (Portugals strahlende Größe). Die impotenten Eroberer von gestern sperren ihre Frauen in weihrauchduftende Häuser (Vom Wesen der Götter).

30 Romane wollte António Lobo Antunes insgesamt zusammenbringen: "Dann höre ich endgültig auf." Gegen diesen unbarmherzigen Erbauer einer Hölle auf Erden nimmt sich sein Landsmann José Saramago (1922–2010), bei allen Verdiensten, wie ein biederer Zimmermann aus. Kein Wunder also, dass Saramago 1998 den Literaturnobelpreis erhielt und Antunes nicht. Letzterer besitzt bis heute keine Kreditkarte, kein Handy. Zeitgenossen beschreiben ihn als eher mürrisch und verschlossen. Seine Schreibklause verlasse er einzig und allein, um Zigaretten holen zu gehen.

Zurück in seiner Ordination, entwirrt António Lobo Antunes dann wieder die durcheinandermurmelnden Stimmen der Schuld und der Pein – und würdigt ihr unersättliches Verlangen nach Erlösung. Morgen, Donnerstag, am 1. September, feiert dieser unbarmherzige Riese seinen 80. Geburtstag. (Ronald Pohl, 31.8.2022)