Michael Wollny: fantasievolle Neudeutung von Songs.

Imago

Bisweilen ist Improvisation der verzweifelte Versuch, sich an eine Melodie zu erinnern. Natürlich nicht im Profibereich. Dort bleibt die Notsituation Ausnahme. Zumeist sind Melodien bei versierten Jazzmenschen wie dem Deutschen Michael Wollny nützliche Heimsuchungen, geisterhafte Besucher, die im Spielhirn herumschwirren und für Improvisatoren inspirierende Wesen darstellen.

Sie nehmen gerne die Form von Songs an. Unter dem Oberbegriff "Standards" bilden sie dann oft jenes formale Korsett, in dessen Rahmen – etwa im Trio – kommuniziert wird. Je subjektiver der Zugang zu den melodischen Spukgestalten, desto offener allerdings die Form und desto weniger erkennbar die Ursprungsmelodie. Es kling dann oft wie neu komponiert.

Bei Wollnys neuer Trio-CD Ghosts (bei Act) ist von Franz Schuberts Goethe-inspiriertem Erlkönig etwa eine düstere Basslinie übrig, über der sich die fiebrige Unruhe des sterbenden Kindes in bohrenden Klavierlinien manifestiert. Auch George Gershwins Klassiker I Loves You Porgy wurden interessant dekonstruiert und zu reiner Atmosphäre eingeschmolzen.

Wichtig war Jarrett

Wollny, der längst etablierte Hoffnungsträger des europäischen Jazz, zeigt also, dass er weit davon entfernt ist, historisches Material nur brav nachzuspielen. Zwar hat er auch Mainstreamklassiker wie Oscar Peterson oder Bebop-Legenden wie Art Tatum studiert. Wichtig war aber zunächst Pianist Keith Jarrett, und was immer man über den empfindlichen US-Star denken mag: Sein egozentrisches Bemühen, eigenwillig und originell zu sein, ist unbestritten ambitioniert. Auch in diesem schönen Sinne ist Jarrett für Wollny wohl prägend gewesen.

Man hört es: Hier ist ein gestaltender Musiker am Werk, dessen Ideen mitunter zwar in kitschigen Fantasien erstarren wie bei Jarrett. Dann allerdings tauchen auf Ghosts Stücke wie Nick Caves Hand of God auf, die als Verschmelzung von Rasanz und Düsternis haften bleiben. Der Junge aus Schweinfurt (Jahrgang 1978) ist also nicht nur sehr vielseitig, er ist auch unberechenbar. Zwischen "schmuseweich" und "freitonal" ist bei ihm alles drin.

Im Duo mit dem reifen Tastenkollegen Joachim Kühn (Caves Hand of God ist übrigens eine Hommage an Kühn) konnte man es schon im Konzerthaus hören: Originell hielt Wollny mit dem wilden Altmeister mit. Es war ein frei assoziierender Dialog quer durch die Musikgeschichte.

Moment des Spielens

Zu seinem Weg, die Songs zu deuten, sagt Wollny: "Als Improvisator spielt man oft nicht die Kompositionen, sondern vielmehr seine eigenen Erinnerungen an diese." Diese Erinnerungen kämen im Moment des Spielens "wieder zu einem zurück und setzen so ihre Existenz im Hier und Jetzt fort", erklärt der Virtuose, der auf Ghosts auch ein Faible für das Schaurige und Fantastische auslebt.

Davon wird man in Wiener Konzerthaus bald noch viel mehr serviert bekommen – in Form gruseliger Eindrücke: Im Rahmen der Reihe Film + Musik live wird Friedrich Wilhelm Murnaus Schwarz-Weiß-Legende Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens zu sehen sein. Diesen Dracula-Klassiker aus der Epoche der Weimarer Republik (1922) wird Wollny mit seiner Komposition live begleiten. Grafen Orlok, das Wesen mit den langen Fingernägeln, das sadistisch langsam Gruselschatten auf ihr Opfer wirft? Wollny und das Norvegian Wind Ensemble werden es mit "Jazz, Elektrosounds, Pop, Klassik oder Punk" angstfrei in Töne "packen". (Ljubiša Tošic, 31.8.2022)