Michail Gorbatschow, im Bild bei einem Treffen mit Arbeitern 1986, ist im Alter von 91 Jahren verstorben.

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Seinen ersten großen Auftritt als Generalsekretär hatte Michail Gorbatschow bei der Militärparade zum Tag des Sieges 1985. Die Militärparade im Mai 2019 auf dem Roten Platz sollte hingegen einer seiner letzten öffentlichen Auftritte werden. Hatte er als Staats- und Parteichef die waffenklirrende einstündige Zeremonie noch auf dem Leninmausoleum stehend hinter sich gebracht, so konnte sich Gorbatschow zuletzt nur noch schwer auf den Beinen halten. Die Bilder zeigten den damals 88-Jährigen gesundheitlich schwer angeschlagen. Und hatte er in den vergangenen Jahren noch selbst voreilige Todesmeldungen als übertrieben dementiert, blieb das Dementi diesmal, drei Jahre nach dem Auftritt, aus. Der Friedensnobelpreisträger und Ex-Präsident der Sowjetunion ist tot.

Michail Gorbatschow 1985 mit US-Präsident Ronald Reagan in Washington, D.C.
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"Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben" soll Gorbatschow – wenn auch etwas verschnörkelter als in der schmissigen Übersetzung – 1989 im Wendeherbst der greisen DDR-Führung um Erich Honecker gesagt haben. Die Worte wurden zum Jahrhundertspruch – und fielen auf ihn selbst zurück. Denn Gorbatschow kam als Reformer des sozialistischen Systems zu spät. Unter ihm zerfiel der Vielvölkerstaat Sowjetunion. Bis zu seinem Tod polarisierte Gorbatschow daher stark. Für die einen ist er der Begründer von Glasnost und Perestroika, für die anderen der Totengräber der UdSSR.

Einfache Anfänge

Als Gorbatschow am 2. März 1931 in der Ortschaft Priwolnoje im Kaukasusgebiet Stawropol geboren wird, deutet noch nicht viel auf eine Karriere in Moskau hin. Seine Eltern sind einfache Bauern, auch er selbst muss während der Schulzeit immer wieder in der Kolchose als Traktorist und Mähdrescherfahrer aushelfen. Immerhin kommt er so ohne Examen an die berühmte Lomonossow-Uni in Moskau, die er mit einem Abschluss als Jurist verlässt.

Gegen Ende der 1970er-Jahre gelang der schnelle Aufstieg Michail Gorbatschows in der Partei.
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Karriere macht Gorbatschow freilich nicht als Rechtsanwalt, sondern in der Partei, zunächst in seiner Heimatregion Stawropol, später dann in Moskau. 1978 wird er ZK-Sekretär, 1980 Mitglied des Politbüros. Unterstützung erfährt er vom mächtigen KGB-Chef Juri Andropow, der 1982 schwerkrank sogar Generalsekretär der KPdSU wird. 1985 – nach einem kurzen Intermezzo Tschernenkos – beerbt ihn Gorbatschow schließlich.

Er übernimmt eine atomare Supermacht mit marodem Unterbau. Planwirtschaft und Hochrüstung haben die Volkswirtschaft, der Afghanistankrieg das Image der Sowjetunion ruiniert – und die Trinksucht die Gesundheit vieler Russen. Der schwerfällige hochbürokratische Beamtenapparat behindert den mächtigen Generalsekretär beim Regieren. Doch Gorbatschow glaubt an die Zukunft des Sozialismus, dem er "ein menschliches Gesicht" geben will.

Glasnost und Perestroika

Seine Antialkoholkampagne scheitert, doch die von Gorbatschow begonnene Perestroika – der Umbau des sowjetischen Systems – fällt noch radikaler aus, als von ihrem Wegbereiter geplant. Transparenz (Glasnost) dient Gorbatschow zunächst als Druckmittel gegen die konservative Nomenklatur, die die Reformen bremsen will.

Ansprache vor dem Ende des Ostblocks: Gorbatschow 1987 in Prag.
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So werden die Archive der Stalinzeit geöffnet und Opfer der Säuberungen endgültig rehabilitiert. Außenpolitisch räumt Moskau erstmals das Vorhandensein des Zusatzprotokolls im Hitler-Stalin-Pakt ein und übernimmt die Verantwortung für das Massaker von Katyn. Im ökonomischen Sektor bilden sich die ersten privat geführten Kooperativen. Viele spätere Oligarchen verdienen dort ihr erstes Kapital.

Hoher Reformdruck

Doch im Land werden wirtschaftliche Misere, Wille zur politischen Selbstbestimmung und damit Reformdruck immer größer. Glasnost wird plötzlich für Gorbatschow selbst zum Problem, denn die öffentliche Kritik an ihm nimmt zu. Während Gorbatschow im Ausland für Friedensbemühungen und Deutsche Einheit gefeiert wird, lässt er in Vilnius auf Demonstranten schießen, die Litauens Unabhängigkeit fordern.

Sowjetische Panzer ließ Gorbatschow 1991 in Vilnius auffahren, um die Unabhängigkeit Litauens zu stoppen.
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Am Ende ist er dem Dauerdruck von beiden Seiten – Konservativen und Radikalreformern – nicht mehr gewachsen. Spätestens mit dem Putsch verliert er die Vormachtstellung im Land. Die Sowjetunion geht unter. Er hätte vieles anders machen sollen, räumte Gorbatschow später ein.

Sein schwerster Fehler sei es aber gewesen, Jelzin nach einem denkwürdigen ZK-Plenum im Oktober 1987 in Moskau gelassen zu haben. Stattdessen hätte er ihn "als Botschafter in eine Bananenrepublik schicken" sollen, urteilte Gorbatschow im Rückblick. So übernimmt am Ende eben jener Jelzin das Kommando und führt die Perestroika zu Ende – mit fatalen Folgen für Millionen verarmter Russen.

Gespanntes Verhältnis: Gorbatschow und Russlands Ex-Präsident Boris Jelzin 1991.
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Die Mehrheit der Russen trauert noch heute der Sowjetunion nach. In nostalgischen Schwärmereien werden die damals herrschende Unmündigkeit, Gängelei und Warenknappheit ausgeblendet. Der Kreml fördert diese Stimmung, kommt sie doch den eigenen Großmachtambitionen zugute. Unterstützt wird er dabei von den staatlichen Medien, die ihre Aufgabe als Propagandainstrument wieder vortrefflich spielen.

Dabei wurde noch unter Gorbatschow eines der weltweit liberalsten Mediengesetze in Moskau durchgesetzt. Aus der aktiven Tagespolitik hat sich der Friedensnobelpreisträger schon in den 90er-Jahren zurückgezogen.

Eine besondere Beziehung verband Gorbatschow mit US-Präsident George Bush Sr., mit dem gemeinsam er den Kalten Krieg dem Ende zuführte.
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Zuletzt kandidierte er 1996 erfolglos um das Amt des russischen Präsidenten. Mit seiner Gorbatschow-Stiftung engagierte er sich zwei Jahrzehnte lang für Friedens- und Umweltpolitik, Armuts- und Krankheitsbekämpfung sowie Aufarbeitung der Geschichte. Bei internationalen Politikveranstaltungen blieb er ein gefragter Redner.

Mit Bush traf sich Gorbatschow immer wieder, hier im Jahr 2012.
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Das Verhältnis zu Nach-Nachfolger Wladimir Putin ist kompliziert: Lobte Gorbatschow ihn anfangs als Reformer, so kritisierte er später die autoritären Tendenzen unter Putin. 2011 auf dem Höhepunkt der Proteste rief Gorbatschow den damaligen Premier dazu auf, nicht wieder in den Kreml zurück zu rochieren.

Ein Bild, das man wenige Jahre zuvor niemals für möglich gehalten hätte: Gorbatschow 1992 im Disneyland in Japan.
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"Drei Amtsperioden – zwei als Präsident, eine als Premierminister – sind genug", urteilte er. Erst im Zuge des ersten Akts der Ukraine-Krise 2014 kam es wieder zur Annäherung der beiden, Gorbatschow verteidigte den Jüngeren gegen Kritik aus dem Westen. Bis zuletzt blieb Gorbatschow allerdings dem Friedens- und Abrüstungsgedanken treu.

Als Kritiker Wladimir Putins galt Gorbatschow nicht unbedingt. Das Verhältnis der beiden war aber kompliziert, mehrfach drang der Ex-Sowjetpräsident auf freie Wahlen und Medien. Das Bild stammt von 2004.
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So kritisierte er das Aus für den noch von ihm ausgehandelten Vertrag zur Abrüstung von atomaren Mittelstreckenraketen scharf. Trotz seiner seit Jahren anhaltenden gesundheitlichen Probleme meldete er sich diesbezüglich immer wieder in der Öffentlichkeit zu Wort. Nun wird diese Stimme fehlen. (André Ballin, 30.8.2022)