Gegen die Europride fanden auch zahlreiche Demonstrationen statt.

Foto: ANDREJ CUKIC / EPA

Nachdem der serbische Präsident Aleksandar Vučić vor einigen Tagen angekündigt hat, dass die Europride am 17. September abgesagt oder verschoben wird, hat Belgrad Post bekommen. 145 Abgeordnete des Europäischen Parlaments haben an den serbischen Staatschef und Premierministerin Ana Brnabić einen Brief geschrieben und die beiden Politiker darin aufgefordert, die Europride zu ermöglichen. Außerdem sollen die Teilnehmer geschützt werden, da es auch um freie Meinungsäußerung und Versammlungsrecht gehe. Die Demonstrierenden der Europride – und sonstige Pride-Veranstaltungen – setzen sich für die Gleichstellung von LGBTIQ-Personen ein.

Das Schreiben wurde von sechs Vizepräsidenten des Europäischen Parlaments und fünf Fraktionsvorsitzenden unterzeichnet. Die Abgeordneten erinnerten an die Verpflichtungen Serbiens als Mitglied im Europarat, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um die Teilnehmer friedlicher Demonstrationen für Menschenrechte zu schützen. In Serbien kommt es immer wieder zu Angriffen von Rechtsradikalen und Hooligans gegen die Pride-Teilnehmer. Die Organisatoren hatten nach Vučićs Ansage bereits klargestellt, dass Politiker gar kein Recht haben, die Europride abzusagen, weil es sich um eine private Veranstaltung handelt. Vučić hatte die Absage damit begründet, dass es angeblich eine Krise mit dem Kosovo gäbe.

Immer wieder in den vergangenen Wochen meinen Politiker wie Vučić, aber auch Brnabić, dass es im Kosovo bald angeblich zu Gewalt kommen würde oder Serben im Kosovo bedroht seien. Vor einem Monat, als die kosovarische Regierung neue Maßnahmen für Reisedokumente und Nummerntafeln für serbische Staatsbürger einführen wollte, errichteten Serben im Nordkosovo Barrikaden und es kam zu gewaltsamen Zwischenfällen mit Sicherheitskräften. Mittlerweile haben sich Serbien und Kosovo auf die Verwendung von Reisedokumenten geeinigt. Deswegen wird der Kosovo im September in dieser Hinsicht keine neuen Maßnahmen einführen.

Noch kein Text veröffentlicht

Die kosovarische Politologin Donika Emini verweist aber darauf, dass der Text der Vereinbarung zu den Ausweisdokumenten noch nicht veröffentlich wurde. Ausgehandelt wurde die Vereinbarung unter EU-Vermittlung, im Hintergrund haben sich aber vor allem US-amerikanische Diplomaten erfolgreich eingesetzt. "Es besteht die Möglichkeit, dass die Parteien sich nur über die großen Themen geeinigt haben und Details später definiert werden müssen", beschreibt Emini die langjährige Politik der "Brüsseler Zweideutigkeit". Dies bedeute auch, dass der Verhandlungsprozess noch lange dauern könne.

Keine Einigung gab es bislang im Fall der Nummerntafeln. Weil Serbien die kosovarischen Kennzeichen nicht akzeptiert und Autofahrer mit kosovarischen Kennzeichen seit vielen Jahren an der Grenze zu Serbien die Tafeln auswechseln oder überkleben müssen, wollte die kosovarische Regierung – auf der Basis des Prinzips der Wechselseitigkeit – ähnliche Regelungen für Autos mit serbischen Kennzeichen einführen, die in den Kosovo fahren.

Teufelskreis technischer Fragen

Bis 31. Oktober gab es noch die Möglichkeit für Kosovo-Serben, die bislang serbische Nummerntafeln verwenden, die kosovarischen Autokennzeichen zu beantragen. Bis dahin konnten die kosovarischen Behörden verlangen, dass die Symbole Serbiens auf den Nummerntafeln abgedeckt werden – analog zu dem System in Serbien. Danach sollen die Tafeln aber eingesammelt werden. Emini denkt, dass es zu einer Einigung bei den Nummerntafeln kommen könne, denn dafür gäbe es bereits eine Grundlage, nämlich eine Vereinbarung aus dem Jahr 2011, so wie bei den Ausweisdokumenten. Sie glaubt aber, dass das Energieabkommen zwischen den beiden Staaten noch relevanter sein könnte, insbesondere jetzt, wo der Kosovo bereits in einer Energiekrise ist.

Das Ganze zeige jedenfalls, dass die EU und die Verhandlungsparteien "in einem Teufelskreis technischer Fragen stecken und somit daran gehindert werden, an der endgültigen Einigung zu arbeiten, die alle offenen Streitigkeiten zwischen dem Kosovo und Serbien beenden würde", sagt Emini zum STANDARD. Sie denkt, dass Vučić und Brnabić den Konflikt mit dem Kosovo bräuchten, um ihre nationalistischen Narrative zu nähren, die Vučić mithilfe der von ihm kontrollierten Boulevardzeitungen aufgebaut habe.

Druck gegen Serben, die kooperieren

Tatsächlich wird Vučić wegen der ungelösten Situation mit dem Kosovo und seiner Instrumentalisierung der Kosovo-Serben im Norden als wichtiger Gesprächspartner des Westens gesehen, während er sich gleichzeitig vom Kreml Unterstützung sichert. "Seit die kosovarischen Behörden 2011 ihren ersten Versuch unternahmen, ihre Kontrolle im nördlichen Teil des Kosovo auszudehnen, indem sie zwei Grenzübergänge einnahmen, ist der Norden des Kosovo ein fragiles und gefährdetes Gebiet, in dem es wiederholt zu Spannungen kam", meint Emini. Tatsächlich kam es in den vergangenen Jahren immer wieder zur Straßenblockaden und gewaltsamen Zwischenfällen. Jene Serben im Norden, die mit den kosovarischen Behörden kooperieren, sind einem dauernden Druck und anhaltender Gewalt ausgesetzt.

"Der Norden des Kosovo wird traditionell von Serbien genutzt, um die Staatlichkeit des Kosovo infrage zu stellen, Instabilität zu erzeugen und die Verhandlungsposition von Vučić im Brüsseler Dialog zu stärken. Jeder Versuch der kosovarischen Regierung, im Norden präsent zu sein, wird von Vučić als Bedrohung für die lokalen Serben dargestellt", so Emini. Im Norden des Kosovo leben viele Serben, aber es gibt auch Gemeinden, wo Albaner, Roma und Bosniaken leben.

Verband serbischer Gemeinden

2013 haben sich Vertreter des Kosovo und Vertreter Serbiens im Dialog in Brüssel auf die Schaffung eines Verbands serbischer Gemeinden im Kosovo geeinigt. Dies wurde allerdings nie umgesetzt. Für Serbien ist der Verband wohl das größte Anliegen, die Kosovaren hingegen befürchten, dass der Verband Exekutivrechte haben und so eine ähnliche Rolle spielen könnte wie die Republika Srpska in Bosnien-Herzegowina.

Die Regierung von Premier Albin Kurti verweist auf eine Entscheidung des kosovarischen Verfassungsgerichts aus dem Jahr 2015, in der zahlreiche Punkte der Vereinbarung aus 2013 für verfassungswidrig erklärt wurden, aber das Versammlungs- und Vereinigungsrecht der Gemeinden und des Bürgermeisters anerkannt wurde. Exekutivbefugnisse für den Verband sind für die Regierung unter Premier Albin Kurti inakzeptabel. Laut der kosovarischen Regierung könnte der Gemeindeverband eine registrierte NGO gemäß dem Vereinigungsgesetz sein. Der Verein würde beim Ministerium für Inneres und öffentliche Verwaltung registriert sein.

Der Ball bei den Kosovaren

Emini kritisiert, dass die Regierung Kurti in der Causa nicht ausreichend transparent kommuniziert, was in der Causa auf dem Tisch liegt. "Dieses Thema bleibt sehr sensibel, und es gibt fast keinen offenen Dialog über die mögliche Gründung des Vereins und seine zukünftige Form", so Emini. Sie erinnert auch daran, dass es Kurti war, als er noch als Oppositionschef agierte, der Tränengas im Parlament versprühen ließ, wenn es um den Verband serbischer Gemeinden ging.

Die EU habe aber ein großes Interesse, den von ihr geführten Dialog erfolgreich zu Ende zu bringen und demnach auch die Frage des Verbandes der serbischen Gemeinden zu klären. Für Serbien sei es hingegen bequem, auf etwas zu bestehen, das der Kosovo nicht liefert, da der Ball damit im Spielfeld des Kosovo bleibe, meint Emini.

Die Schaffung einer Krise

Die Expertin, die Internationale Beziehungen in Großbritannien studierte, verweist auch auf die maßgebliche Rolle Russlands in der Dynamik. "Kosovo wurde von Russland strategisch genutzt, um internationalen Druck auf die EU als Vermittlerin des Dialogs auszuüben", so Emini. Dies habe wiederum Serbien einen soliden Einfluss auf die EU verschafft. Solange das Verhältnis zwischen Serbien und Kosovo nicht geklärt sei, ergäben sich mehr Möglichkeiten für russischen Einfluss – insbesondere durch den Zugang zu den Serben im Nordkosovo. Durch eine solide Zusammenarbeit mit rechtsextremen Parteien sei die russische Propaganda bereits tief in die Gesellschaft eingedrungen. Emini spricht von einem Informationskrieg: Durch Desinformation, gefälschte Nachrichten und das Auslösen von Panik in der Bevölkerung schaffe man eine Krise und die Furcht vor Instabilität.

Dies konnte man bereits Ende Juli gut beobachten, als auch viele westliche Medien über die inszenierte Krise im Nordkosovo berichteten, so als handle es sich um eine reale und nicht um eine produzierte Gefahr, die zu Manipulationszwecken geschaffen wurde. In der Vergangenheit besuchte auch der russische Botschafter die Grenze zwischen dem Kosovo und Serbien. Der Kreml ließ wissen, dass man Serbien helfen werde, sollte es zu einer militärischen Intervention im Kosovo kommen. Eine solche war aber gar nie angedacht.

Geschichten über den Krieg

Emini verweist darauf, dass im Juli, als die Spannungen im Norden zunahmen, durchgesickerte Informationen großer Telegramm-Gruppenchats zeigten, wie gefälschte Nachrichten über den Norden verbreitet wurden und Geschichten über einen Krieg im Kosovo genährt wurden, in dem angeblich die kosovarische Regierung Angriffe auf lokale Serben planen würden. Auch Vučić selbst hat dieses Narrativ immer wieder aufgenommen. (Adelheid Wölfl, 1.9.2022)