Sölden, Sonntag, 6.30 Uhr. Wo im Winter beim Après-Ski auf den Tischen getanzt wird und James Bond einst Ganoven auf Skiern jagte, stehen heute mehr als 4.000 Menschen auf der Straße und warten auf den Sonnenaufgang. Zum Spaß, in ihrer Freizeit. Sie lehnen an Rennrädern, auf denen sie sich wenige Augenblicke später ins Tal stürzen werden. Als Auftakt für einen langen Tag in den Bergen.

5.500 Höhenmeter und fast 230 Kilometer in rund zwölf Stunden, das sind die Eckdaten des Ötztaler Radmarathons.
Foto: Ötztal Tourismus / EXPA / Johann Groder

Wir schreiben den 28. August, den Tag des Ötztaler Radmarathons. In der gar nicht so kleinen Welt des Radsports gilt das Rennen als inoffizielle Weltmeisterschaft der Hobbyfahrerinnen und -fahrer. Denn wer "Ötztaler" sagt, der sagt auch Kühtai, Brenner, Jaufenpass und Timmelsjoch. Vier Pässe, die sich zu 227 Kilometern und 5.500 Höhenmetern summieren – wegen Umleitungen sind es bei der diesjährigen 41. Austragung sogar sechs Kilometer und 200 Höhenmeter mehr. 16.000 Motivierte wollen sich den Spaß jedes Jahr antun, ein Losverfahren kürt immer im Februar den Kreis der Auserwählten – damit noch reichlich Zeit zur Vorbereitung bleibt.

Weißbier, Wolf und letzte Witze

Unter den Wagemutigen stehe heute auch ich. Die Temperatur im hochalpinen Frühherbst tendiert bedrohlich zur Einstelligkeit. Wer den Sommer über bei 35 Grad am Wiener Kahlenberg trainiert hat, mag das als Kulturschock empfinden. Auch weil die ersten 30 Kilometer bergab Richtung Oetz mit knapp 50 Stundenkilometern im Schnitt nicht zur Erwärmung der Beine, sondern nur zur Erhitzung des Gemüts beitragen. Am Anfang will jeder vorne sein, entsprechend ist das Gerangel. Plötzlich auftauchende Fahrbahnteiler und Kreisverkehre tragen nicht zur Entspannung bei. Als das Feld endlich scharf rechts in den ersten Anstieg abbiegt, höre ich daher eine Radlerin sagen: "Das Schlimmste ist geschafft." Mehrheitstauglich ist die Meinung freilich nicht. Allein das Kühtai mit 1.200 Höhenmetern auf 18 Kilometern Länge ist schon mehr als eine Aufwärmübung. Um mich herum behilft man sich mit Galgenhumor. Ich höre einen Bayern einen Witz reißen, in dem Trinkflaschen und Weißbier vorkommen.

Manche Kühe entlang der Strecke beobachten die Radlerinnen und Radler. Diese sucht die mediale Aufmerksamkeit.
Foto: Ötztal Tourismus / EXPA / Johann Groder

Langsam schlängelt sich nun das Feld nach oben. Erstmals bleibt Zeit, mich umzusehen und umzuhören. Zuschauer stehen in Hauseinfahrten und applaudieren. In jeder Kurve halten Radfahrer und reißen sich die Windjacken vom Leib. An einem Bauernhof erzählt ein großes Transparent das Märchen vom bösen Wolf. Ich höre Niederländisch, Italienisch, Sächsisch und reichlich Tirolerisch im Fahrerfeld. Etwas weiter oben geben Trommler den Takt vor. Sie bilden das Intro einer ganz speziellen Playlist, die uns heute am Streckenrand begleiten wird. Aus Boxen und aus Kofferräumen tönt Tainted Love, ebenso passend Keine Party von Deichkind, zu späterer Stunde Highway to Hell von AC/DC und das famose Der Zug hat keine Bremse (Mallorca Edition) von Ingo ohne Flamingo. Letzteres lässt sich im Sangria- genauso wie im Laktatrausch mitsummen.

Das Ungeheuer Besenwagen

Der höchste Punkt des Kühtaisattels liegt heute in sattem Nebel. Die namensgebenden Kühe stehen gesittet hinter Weidezäunen und beäugen die Szenerie. In der sehr zügigen Abfahrt tut man gut daran, sich nicht an die verbleibenden drei Berge zu erinnern. Immer im Kopf jedoch ist ein anderes Ungeheuer, das nicht vor, sondern hinter dem Feld lauert: der Besenwagen. Das Wort klingt unschuldig. Doch harmlos ist beim Ötztaler gar nichts, und der Besenwagen – das ist der Scharfrichter, der entscheidet, ob man würdevoll weiter leiden oder in Schmach und Schande vom Rad steigen muss. Wen der Besenwagen am Ende des Feldes überholt, der fällt aus dem Rennen – zu spät am Tag würde er oder sie das Ziel erreichen, wenn überhaupt. Deshalb geht’s mit Zug auf der Kette – man erinnere sich: "Der Zug hat keine Bremse …" – durch Innsbruck und über den Brenner nach Südtirol. Wo nach geschlagenen 150 Kilometern das Rennen am Fuße des Jaufenpasses erst so richtig losgeht.

"Olm asöu weiter"

Zu diesem Zeitpunkt kämpfe ich bereits seit zweieinhalb Stunden mit Brechreiz. Man muss kein diplomierter Sportwissenschafter sein, um zu erkennen, dass das in diesem Rennen suboptimal ist. Die Transparente in den Kehren der Passstraße geben im breitesten Südtirolerisch Unterstützungserklärungen ab. Was "Olm asöu weiter und sel bis ins Ziel" heißt, kann ich nur erahnen, es hilft mir leider nicht allzu viel. Das aber hat der Radsport so an sich. An irgendeinem Punkt muss man anfangen, sich zu betrügen, um überhaupt noch weiterzufahren. "Wenn du glaubst, es geht nicht mehr, hast du erst ein Drittel deiner Kraft verbraucht", hatte mein Vater immer gesagt, wenn ich als Kind auf einer Wanderung irgendwo in den steirischen Alpen nicht mehr weiterwollte. Das war zwar, im Nachhinein betrachtet, wenig evidenzbasiert, aber was kümmert sich ein Siebenjähriger um Evidenz – immerhin funktionierte es. Und es wirkt auch heute. Langsam fühle ich mich besser.

Die Aussicht ist fantastisch, aber die Strapazen sind enorm.
Foto: Lukas Ennemoser

Wenig später begegnet mir mein Vater in einer Vision. Plötzlich steht er auf der Passhöhe im einsetzenden Regen vor mir. Als er mir eine Flasche reicht, merke ich, dass ich ihn mir nicht nur einbilde, sondern dass er tatsächlich da ist – wir hatten uns den Treffpunkt schließlich ausgemacht. Entlang der ganzen Strecke stehen Freunde und Familienangehörige von Fahrerinnen und Fahrern, die sie anfeuern, mit Essen, Trinken und Gewand versorgen. Ohne sie und die tausend Freiwilligen des Veranstalters würde hier gar nichts gehen.

Ein schweres Joch

Die serpentinenreiche Abfahrt vom Jaufenpass ist nichts für schwache Nerven und noch weniger für schwache Bremsen. Im Tal in St. Leonhard bricht plötzlich der Sommer herein. Bei einem kurzen Halt am Straßenrand rollt ein Autofahrer an meiner Gruppe vorbei und fragt durch die geöffnete Fensterscheibe, wo wir denn alle herkommen. Auf unsere Antwort "Aus Sölden" entgegnet er, dass wir doch in die falsche Richtung fahren. Als wir ihn über den genauen Sachverhalt aufklären, schüttelt er verwirrt den Kopf und fährt weiter.

Nach zehn Stunden auf dem Rad und keine 30 Kilometer mehr vom Ziel entfernt müssen mehrere Sportler aufgeben, etwa weil sie von starken Krämpfen geplagt werden.
Foto: Lukas Ennemoser

28 Kilometer und 1.800 Höhenmeter liegen jetzt noch in der felsgewordenen Gestalt des Timmelsjochs vor uns. Mir gelingt es, die erste Hälfte des Anstiegs mit dem Blick auf stolze Dreitausender zu genießen. Doch irgendwann hilft auch das schönste Panorama nicht mehr. Zehn Stunden bin ich nun schon unterwegs. Der Körperteil, der jetzt nicht schmerzt, um den muss man sich wirklich Sorgen machen. Fahrer sitzen am Straßenrand, die Gesichter in den Händen vergraben. Ein Italiener antwortet auf meine Frage, ob er Hilfe brauche, nur "Crampi", was ich, wenn auch im Italienischen unbewandert, unschwer als "Krämpfe" interpretiere. Viele geben spätestens hier auf.

Die Einsamkeit des Redakteurs auf dem Timmelsjoch.
Foto: Sportograf

Der Handschuh

"Und ich lief jahrelang nur durch Regen, oder ob es Tränen waren, ich weiß es heut’ nicht mehr", singen die Toten Hosen. Bei mir sind es heute Stunden, die sich wie Jahre anfühlen. Und ist es Regen, sind es Tränen? Im Zweifelsfall beides. Denn aus dem Wind peitschen jetzt wieder die Tropfen wie kleine Nadeln durch die bitterkalte Luft jenseits der Baumgrenze. Irgendwann bin ich tatsächlich oben, 2.509 Meter über dem Meer. Es ist kein Triumph, nur eine Mischung aus Unglauben und Schüttelfrost. Als ich für die letzte Abfahrt meine Handschuhe hervorkrame, weht mir der Sturm sie aus der Hand. Auf einem Felsen vor dem gähnenden Abgrund bleiben sie liegen. Ich bin ganz offen zu ihnen: Wären sie weitergeflogen, ich hätte sie hier oben zurückgelassen.

Als ich in Sölden ankomme, beginnt bald Tirol heute im Fernsehen. Zwölf Stunden und sieben Minuten hat die Spritztour für mich gedauert. Von den 4.122 Personen am Start haben 3.566 das Ziel erreicht. Am Ende hatten hoffentlich alle ihren Spaß. Und eine Freude, als der Spaß wieder vorbei war. (Michael Windisch, 1.9.2022)