Bei der Nationalratswahl 2019 lag die ÖVP unangefochten an erster Stelle und kam auf 37,5 Prozent. Aus heutiger Sicht unglaublich. Die ÖVP liegt aktuell in Umfragen bei 20 Prozent und muss damit rechnen, auf den dritten Platz abzurutschen. Das ist längst nicht das Ende der schlechten Nachrichten. Die ÖVP zerbröselt dort, wo bisher ihre wahre Macht lag und wo sie als schlichtweg unerschütterlich galt: in den Bundesländern.

Die ÖVP glaubt kaum noch an sich selbst.
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Zwei Schlaglichter lassen für die Volkspartei das Schlimmste befürchten. In Tirol, wo am 25. September gewählt wird, steht die ÖVP erst gar nicht auf dem Stimmzettel. Sie ist sich dort offenbar selbst schon so unangenehm, dass sie als Liste Mattle antritt, benannt nach Spitzenkandidat Anton Mattle. Laut einer von der Tiroler Tageszeitung veröffentlichten Umfrage liegt die Mattle-ÖVP bei 26 Prozent, das wäre ein Minus von 18 Prozentpunkten. Ein Erosionsprozess.

In Niederösterreich ist es fast noch dramatischer, da dieses Land von der absoluten Zahl der Wähler her die wichtigste schwarze Bastion ist. Glaubt man einer aktuellen Umfrage, stürzt die ÖVP hier auf 32 Prozent ab. 2018 schaffte Johanna Mikl-Leitner knapp 50 Prozent. Vielleicht war auch das ungesund.

System Kurz ist zusammengestürzt

Was ist passiert? Das System Kurz ist mit lautem Getöse in sich zusammengestürzt. Es kracht und donnert immer noch. Die Korruptionsstaatsanwaltschaft arbeitet sich an einem Fundus an Chat-Nachrichten ab, die belegen, wie sich Sebastian Kurz und seine Getreuen die Republik aufteilten. Die politischen Konsequenzen sind gezogen: Kurz ist nicht mehr Kanzler. Das mag dem Land guttun, der ÖVP hat es nicht gutgetan.

Mit dem jetzigen Personal ist die ÖVP kaum in der Lage, dem Trend etwas entgegenzusetzen. Die Turbulenzen, in die sich die SPÖ mit dem Debakel um die Wien Energie begeben hat, bescheren der ÖVP eine kurze Verschnaufpause. Aber der Prozess der Zersetzung wird sich eher noch beschleunigen.

Die ÖVP hat keine Antworten auf die Herausforderungen unserer Zeit, sie hat im Augenblick nicht einmal einen Wertekanon, an dem sie sich orientieren könnte. Sie hat keine Haltung, die sie glaubwürdig vertreten könnte. Grundsatzarbeit passiert nicht mehr, alles war auf den schnellen Erfolg ausgerichtet. Das hat unter Kurz funktioniert, aber diese Seifenblase ist zerplatzt.

Persönlichkeit mit Charisma fehlt

Die ÖVP müsste sich grundsätzlich infrage stellen und neu orientieren. Dazu hat Karl Nehammer, der ihr Chef ist, ganz offensichtlich nicht die Kraft und den Willen. Er ist getrieben von den aktuellen Ergebnissen der Tagespolitik und bekommt diese kaum in den Griff.

Nehammer fehlt so vieles, was einen guten Parteichef (oder Chefin) ausmachen würde. Diese Talente sind auch bei der Konkurrenz ganz dünn gesät. Aber wenn die ÖVP aus ihrer Misere rauskommen will, braucht sie eine Persönlichkeit, die über Charisma, vielleicht Charme und jedenfalls ausreichend Rhetorik verfügt, zudem in der Lage ist, den politischen Anspruch mit Inhalten, Ideen, einer glaubwürdigen Wertehaltung zu füllen, und dabei auf die Empathie nicht vergisst. Ganz grundsätzlich müssen sich die Personen, die derzeit unsere Politik bevölkern, die Frage gefallen lassen, ob sie mit ihrer Anwesenheit einer solchen, derzeit ja noch fiktiven Persönlichkeit den richtigen Rahmen bieten, in dessen Mitte man sich gerne engagieren möchte. Das gilt freilich nicht nur für die ÖVP. (Michael Völker, 2.9.2022)