Im Gastblog betrachtet der Psychologe Daniel Witzeling die aktuelle politische Lage der österreichischen Republik.

Turbulenzen um nationale Energieversorger im Einflussbereich der SPÖ, Irritationen und Probleme bei der Kanzlerpartei ÖVP, die bis zum Koalitionspartner, den Grünen, ausstrahlen, die nachhaltigen Aus- und Wechselwirkungen der Corona-Maßnahmen, sowie die Sanktionen gegenüber Russland, die an uns nicht spurlos vorbeigehen, könnten nun zu einem großen Umbruch in der österreichischen Innenpolitik führen.

Österreich: Ein sozioemotionaler Druckkochtopf?
APA/HELMUT FOHRINGER

Die Leidensfähigkeit der Menschen in der Alpenrepublik wurde zu lange auf die Probe gestellt. Nun scheint es so, dass sich der sonst so charmante und gemütliche Homo austriacus in seinen Grundbedürfnissen und darüber hinaus zutiefst gestört und von der Politik vernachlässigt fühlt, wie man anhand der zahlreichen Corona-Demos, sowie an durch den ÖGB geplanten Proteste gegen die Teuerungen gut beobachten kann und konnte. Von den Entwicklungen durch vermehrten Hass und Wut im Netz auf verschiedensten Social-Media-Plattformen ganz abzusehen, wie das traurige Schicksal einer oberösterreichischen Ärztin beweist. Wir befinden uns - ohne es aktuell noch zu stark zu merken - in einem sozioemotionalen Druckkochtopf. Ein erstes Ventil werden kommende Wahlen sein.

Dysfunktionale Politik

Monokausale Erklärungen in einer multikausalen Welt sind zu wenig. Dieses Faktum wird immer mehr Menschen in Zusammenhang mit den Krisen unserer Zeit von Corona bis zum Krieg in der Ukraine und den nun horrenden Lebenserhaltungskosten bewusst. Die aktuellen Prozesse sind ein komplexes Wechselspiel aus über zwei Jahren nicht immer optimaler Corona-Politik, dem permanenten Changieren der politischen Verantwortlichen als auch wenig reflektierten Sanktionen gegenüber der Militär- und Rohstoffmacht der Russischen Föderation. Höhere oder höchste Werte kann man sich nur leisten, wenn man auf der berühmten Maslowschen Bedürfnispyramide auf den oberen Stufen angelangt ist.

Denn wer seine Unterkunft und die Verpflegung nicht mehr zahlen kann, hat wenig Verständnis für gut verdienende Staatsdiener, die auf Kosten der Bevölkerung Entscheidungen treffen, deren Rechnung sie dann am Ende zahlen müssen. Wie heißt es frei nach Bertolt Brecht so schön "Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.". Diese Aussage hat einst Brecht effektvoll der Bourgeoisie entgegengehalten, die vom hohen Ross materieller Wohlsituiertheit den niederen Schichten Moral predigen wollte.

Demoskopische Erhebungen für die kommenden Landtagswahlen belegen, dass nun der Souverän ebenfalls seine offene Zeche mit der hohen Politik und im Speziellen mit den regierenden Parteien begleichen dürfte. Die Wähler wollen nicht wortreiche Erklärungen oder moralische Vorhaltungen von ihren Politikern, sondern die Funktion ebendieser sollte es sein Lösungen, anzubieten und zu realisieren. Hier reichen nun freihändig verteilte Kompensationszahlungen wie der Klimabonus, die wir am Ende selbst bezahlen, zum Ungeschehenmachen eigener Fehlentscheidungen nicht aus.

Politik als Intelligenztest

Sanktionen im Allgemeinen sind ein äußerst komplexes Thema für sich. Politische umso mehr, da nicht nur alle handelnden Akteure in die Berechnungen mit einbezogen werden müssen, sondern auch die aktuelle Situation im eigenen Land mitsamt der dort lebenden Bevölkerung. Zu guter Letzt sollte noch eine gehörige Portion Selbsteinschätzung mit in den Topf geworfen werden, um das gewünschte Ziel überhaupt erreichen und den in den meisten Fällen durch Gegensanktionen entstehenden Schaden entsprechend abfedern zu können.

Hat man sich nach Abwägung aller Faktoren dann zu Interventionen durchgerungen, wäre man gut beraten, sich vor deren Setzung nach Alternativen umzusehen, denn sonst läuft man logischerweise Gefahr unvorhergesehene Konsequenzen seines eigenen Handelns zu tragen. Aber offenbar sind unsere politischen Vertreter und Vertreterinnen jene Art der Denkweise nicht gewohnt oder ihrer nicht mächtig, da sie in unserem privilegierten Land selten direkt mit den Resultaten ihrer Arbeit konfrontiert werden. Dies dürfte sich nun bei einer immer kürzeren Halbwertszeit politischer Entschlüsse und deren Auswirkungen auf das humane Ökosystem signifikant ändern.

Handlungen und Maßnahmen fallen in einer vernetzten Welt den Entscheidungsträgern und Entscheidungsträgerinnen immer schneller auf den Kopf, wenn diese nicht ausreichend durchdacht waren. Ob dies nun einen Stromkonzern oder unser fragiles Gesundheits- wie Wirtschafts- und Finanzsystem betrifft ist egal. Hier wird Politik zum Intelligenz- und in der Folge Realitätstest.

Politkybernetisches System

Da wir nunmehr in einem politkybernetischen System leben, hat die Sanktionspolitik auf EU-Ebene, die von der Bundesregierung mitgetragen wird, einen Einfluss auf die bevorstehende Bundespräsidentenwahl, die als Blitzableiter für die Unzufriedenheit der Bewohner Österreichs dienen wird. Sie ist daher nicht isoliert von den Maßnahmen der EU zu betrachten. Gerade Faktoren wie die Teuerung innerhalb des Landes werden von Konkurrenten des aktuellen Bundespräsidenten vor allem aus dem rechten bis konservativen Lager instrumentalisiert.

Dessen Repräsentanten wie Michael Brunner von der MFG, Walter Rosenkranz von der FPÖ, Tassilo Wallentin und Gerald Grosz fordern größtenteils eine Aufhebung der Sanktionen bis hin zu einer Abstimmung betreffend einen Austritt aus der EU, wie es von Gerald Grosz versprochen wurde. Der Unternehmer Heini Staudinger und der Mediziner Dominik Wlazny setzen hier eher auf klassische linke Themen wie Solidarität und Konzernbesteuerung im Sinne einer Vermögensgerechtigkeit. Welche Dogmen wirklich ziehen, wird der Wahltag weisen. Aber vielleicht sind gerade viele Jäger des Präsidenten Verhängnis, denn ob noble Zurückhaltung und ein präsidialer Habitus als Zeichen von Stabilität gesehen werden und somit den Menschen in Krisenzeiten konvenieren ist schwer zu sagen.

A Change Is Gonna Come

Wie heißt es so schön im Lied des leider zu früh verstorbenen US-amerikanischen Sängers, Songschreibers und einem der Väter des Soul, Sam Cooke? "A Change Is Gonna Come". Tatsache ist, dass der Unmut in Österreich derart stark vorhanden ist, dass beide einstigen Großparteien weiterhin einem Erosionsprozess unterliegen und neue Politinitiativen wie die Bierpartei in Wien oder an sich alte Parteien wie die KPÖ durch klare Stimmenzuwächse in Graz das politische Feld verändern.

Vielleicht kommt es zu ganz neuen demokratischen Bewegungen und Entwicklungen in Verbindung mit den Heini Staudingers, Marco Pogos oder gar Tassilo Wallentins, die schon bei den Bundespräsidentenwahlen einen Probelauf für weitere Wandlungen in unserem Demokratiegefüge vollziehen. Ein Mechanismus, der für das verkrustete und morsche Politsystem in unserem Land möglicherweise gar nicht einmal so schlecht ist. Denn wie wusste schon der Schriftsteller Thomas Bernhard: "Jeder Mensch hat seinen Weg, und jeder Weg ist richtig."

Sollte bei den kommenden Wahlen zum Bundespräsidenten das bis dato Unmögliche, nämlich eine Abwahl des amtierenden Präsidenten Alexander Van der Bellen, zur realen Möglichkeit werden, dann wäre dies ein Super-GAU nicht nur für zahlreiche Demoskopen und Experten, sondern vielmehr für das gesamte Polit-Establishment. Je nach Gewinner hätte dies sogar Neuwahlen und somit bei der angespannten sozioökonomischen Situation in der Bevölkerung einen kompletten Wandel in der Innenpolitik, bei dem die Karten komplett neu gemischt werden, zur Folge. Wer Nutznießer eines derartigen Neustarts sein würde, wird von der Qualität und Glaubwürdigkeit des Spitzenpersonals abhängen, welches die Parteien in den Wahlkampf entsenden. (Daniel Witzeling, 19.9.2022)

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