Von Frauen verfasste Berichte über Flucht und Exil gibt es wenige; meist dominieren die Memoiren männlicher Geistesgrößen. Deshalb ist Hertha Paulis Erinnerungsbuch Der Riss der Zeit geht durch mein Herz ein umso wichtigeres Dokument des Überlebens in bedrohlichen Zeiten. Allein das Namensregister liest sich wie ein Who’s who deutschsprachiger Intellektueller vor dem und während des Zweiten Weltkriegs.

Die 1906 in Wien geborene Halbjüdin startete als Schauspielerin in Breslau und Berlin, bevor sie zu schreiben begann. Sie war 32, als sie zusammen mit den Freunden Karl Frucht und Walter Mehring, der zuvor aus Berlin nach Wien geflohen war, Österreich in Richtung Paris verlassen musste. Der Aufenthalt in der französischen Hauptstadt fand 1940 durch den Einfall deutscher Truppen ein jähes Ende.

Mit viel Glück erhielt Pauli schließlich ein Visum für die USA, wo sie von neuem, diesmal in englischer Sprache, zu schreiben anfing. 30 Jahre später zeichnet die Autorin die wechselvollen Ereignisse von Vertreibung und Flucht aus der Perspektive einer zwar Geretteten, nicht aber Zurückgekehrten nach.

Hertha Pauli in den 1960ern in ihrem Haus in New York.
Foto: ÖNB, Nachlass Csokor

Inzwischen war sie in den USA erfolgreich, ihr Renommee im deutschsprachigen Raum jedoch ungleich kleiner. Trotzdem sind in diesem Buch keine Ressentiments zu spüren, sondern Erinnerungen werden mit literarisch ausgereiften Mitteln ausgestaltet, politische Ereignisse, welche die einzelnen Schicksale und den Fluchtverlauf bedingten, spannend nacherzählt, Informationen aus Zeitungsartikeln erklärend beigefügt.

Wir ist wichtiger als Ich

Bemerkenswert ist vor allem, dass sich Pauli meist als Teil von Gemeinschaften beschreibt, selten als einzeln Agierende. Das Wir scheint wichtiger als das Ich. Freundschaft und Zusammenhalt bilden unabdingbare Instrumente des Überlebens. Immer wieder flicht sie die Überlegungen befreundeter Autoren zu Ortlosigkeit und Ungewissheit ein. So zum Beispiel Verse Walter Mehrings, aber auch Zitate Ödön von Horváths, mit dem sie eine starke Zuneigung verband.

Hertha Pauli, "Jugend nachher". Mit einem Nachwort von Evelyne Polt-Heinzl. € 24,– / 248 Seiten. Milena, Wien 2019
Foto: Milena

Dennoch werden Emotionen diskret geschildert. Eine Ausnahme bildet das Kapitel "Dossier d’amour", in dem Pauli ihre Liebesgeschichte mit einem französischen Tischler beschreibt. Der Titel weist bereits auf ein Ineinander von Bürokratie und Gefühl, was auf Paulis ungesicherten Aufenthaltsstatus und die daraus entstandenen gefährlichen Situationen zurückzuführen ist. Der Affäre mangelt es nicht an romantischen Details, wie das Kennenlernen auf einer Brücke, als der spätere Geliebte ein Kind vor dem Ertrinken rettet, ein Wiedersehen mit Champagner, französische Lieder etc.

Heiratspläne scheiterten jedoch aufgrund fehlender Papiere. Die zunehmende Gefahrenlage zwingt Pauli dann, den Geliebten, der sich der Résistance anschließen wird, zu verlassen. Ein Leben wie im Roman! Teile dieser Erzählung von literarisch hoher Qualität konnte Pauli während der Flucht in Exilzeitungen veröffentlichen.

Die Brücke bleibt eine wichtige Metapher in Paulis Leben. So wie das Erinnerungsbuch eine Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart bildet, will Pauli als Schriftstellerin zwischen Europa und den USA vermitteln. Vor allem verfasst sie Lebensläufe bedeutender historischer Figuren wie Franz von Assisi, Bertha von Suttner, Sojourner Truth. Die Tragik ihres Exils ist, dass sie in Österreich als Autorin nie mehr so bekannt wurde, wie sie es in den USA war.

Nicht wütend

Nur der Roman Jugend nachher von 1959 bedeutet eine Ausnahme. In diesem fällt Paulis Blick von außen auf ehemaliges Nazi-Gebiet, er bildet einen Hybrid aus amerikanischer und deutscher Nachkriegsbefindlichkeit, zwischen Zeiten und Räumen schwebend, nicht zuletzt ein Spiegel ihrer persönlichen Lebensumstände. Auch dieses Buch ist mittlerweile neu aufgelegt. Gerne hätte man mehr über Hertha Paulis zweites Leben in den USA erfahren. Doch der umtriebigen Autorin war es nicht vergönnt, ihr nächstes autobiografisches Werk mit dem geplanten Titel Laterna Magica zu verfassen.

Hertha Pauli, "Der Riss der Zeit geht durch mein Herz". € 25,– / 265 Seiten. Zsolnay, Wien 2022
Foto: Zsolnay

1973 starb Pauli an einem Hirntumor. In einer kurzen Tonaufnahme aus dem Onlinearchiv der Österreichischen Mediathek ist es möglich, ihre Originalstimme zu hören. Sie klingt eher wehmütig, weder wütend noch Wiedergutmachung einfordernd. Hertha Paulis Überlebensbuch Der Riss der Zeit geht durch mein Herz wurde aufgrund ihres frühen Todes das letzte Werk einer bewundernswerten Persönlichkeit, welches sich spannend und lebendig liest.

Parallelen zu Fluchtbewegungen durch aktuelle Konflikte machen Paulis Ausführungen zu endlosen Papierkriegen und emotionalen Befindlichkeiten geflüchteter Menschen nahezu zeitlos. (Sabine Scholl, 4.9.2022)