Raketenangriffe auf Enerhodar, als Journalisten getarnte Spione, versuchte Terroranschläge: Im Vorfeld der Fachleutemission der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEA) in das ostukrainische AKW Saporischschja überschlugen sich russische Medien nur so vor Berichten über angebliche ukrainische Sabotageversuche. Bemüht waren sie dabei weniger um die Glaubwürdigkeit als um die schiere Masse der Anschuldigungen.

Ein junger Mann steht auf einem durch Raketenschläge zerstörten Balkon in Enerhodar. Russland schreibt den Angriff der Ukraine zu.
Reuters / Alexander Ermochenko

Zur Erinnerung: Das Atomkraftwerk Saporischschja ist Europas größtes AKW. Die Anlage ist seit Kriegsbeginn von russischen Truppen besetzt, wird aber weiterhin von der ukrainischen Belegschaft betrieben und produziert Strom für das ukrainische Netz. Seit Wochen wird das Gebiet immer wieder beschossen, wofür sich Russland und die Ukraine gegenseitig verantwortlich machen. Die Ukraine wirft Russland zudem vor, das Kraftwerk als "nuklearen Schutzschild" zu missbrauchen.

Brisante Lage rund um das AKW

Vergangene Woche spitzte sich die Lage zu, als infolge eines Brandes Schäden an den Stromleitungen entstanden und beide aktiven Reaktorblöcke zwischenzeitlich vom Netz genommen wurden. Bereits kurz zuvor hatte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj vor dem UN-Sicherheitsrat die Entsendung einer Fachleutemission der IAEA gefordert. Der Grund dürfte simpel sein: Die Stromversorgung der Ukraine hängt maßgeblich vom AKW Saporischschja ab, ein Ausfall hätte gravierende Folgen für die Bevölkerung des Landes.

Am Donnerstag schließlich traf das IAEA-Team unter Leitung von Direktor Rafael Grossi am AKW ein. Doch bis dahin war es ein langer Weg. Immer wieder musste der Konvoi der Organisation innehalten und abwarten, denn er bewegte sich durch schwer umkämpftes Gebiet. Und genau diesen Umstand machten sich staatliche russische Medien bereitwillig zunutze.

Besonders auffällig waren dabei die Telegram-Kanäle der staatlichen Nachrichtenagenturen, allen voran Ria Nowosti. In Russland spielt dieser Verbreitungsweg eine nicht zu unterschätzende Rolle. Vor allem jüngere Menschen beziehen ihre Nachrichten oft kaum über das Fernsehen, sondern vor allem über News-Feeds in der Messenger-App.

Terrorzellen und Soldaten hinter der Frontlinie

Noch am Mittwoch berichtete Ria dort von der Festnahme angeblicher ukrainischer Terroristen, die einen Anschlag auf das AKW geplant haben sollen. Kurz darauf zirkulierten Aufnahmen, die deren Festnahmen sowie eine stattliche Sammlung an Waffen zeigen sollten. Die Echtheit der Bilder darf bezweifelt werden, denn die russischen Geheimdienste ließen solche Aufnahmen von vorgeblichen ukrainischen Terroristen bereits kurz vor der Anerkennung der selbsternannten "Volksrepubliken" Donezk und Luhansk zirkulieren – nicht zuletzt, um den späteren Einmarsch zu legitimieren.

Ohnehin war dies nur ein Vorgeschmack auf die Nachrichtenflut des nächsten Tages. Um sechs Uhr morgens weckte Ria Nowosti seine Leser mit Bildern vom neuerlichen Beschuss Enerhodars, eine Stunde später folgte dann zum ersten Mal die Nachricht, eine ukrainische Landungstruppe sei in der Nähe der Stadt – hinter dem Frontverlauf also – festgesetzt worden. Direkt darauf die Interpretation: "Die Entsendung der Landungstruppe und der Beschuss von Enerhodar erfolgten mit dem Ziel, die Ankunft der IAEA-Mission zu stören." Wieder eine Stunde später: "Ukrainische Truppen beschießen seit acht Uhr morgens Moskauer Zeit den Treffpunkt der IAEA-Mission in der Nähe der Ortschaft Wassyliwka."

Der Wahrheitsgehalt ist zweitrangig

Im Laufe des Tages kam noch so einiges dazu. Zwei weitere Landungstruppen sollen beim Versuch, den Dnipro in Richtung Enerhodar zu überqueren, ausgeschaltet worden sein, eine davon sei 60 Mann stark gewesen. Das russische Verteidigungsministerium sprach schließlich von dem Versuch Kiews, das AKW zu "besetzen" und die IAEA-Mission als "lebenden Schutzschild" zu benutzen.

IAEA-Direktor Rafael Grossi, hier kurz vor der Abfahrt zum AKW Saporischschja, leitet die medial kontrovers begleitete Mission.
Reuters/Stringer

Zwischen solchen drastischen Meldungen standen immer wieder Anschuldigungen, Kiew versuche die Ankunft des Teams zu verzögern oder wolle als Journalisten getarnte Spione in die Mission einschleusen.

Wer wissen will, ob jede dieser Nachrichten im Einzelnen von der russischen Bevölkerung als glaubwürdig eingestuft wird, der stellt die falsche Frage. Viel wichtiger ist die Frequenz, mit der die Benachrichtigungen die Handybildschirme aufleuchten lassen. Allein bei Ria Nowosti verging am Donnerstag keine halbe Stunde, ohne dass Nutzer an angebliche verzweifelte Sabotageversuche der Ukraine erinnert worden wären.

Die meisten Russen folgen außerdem nicht nur einer Agentur, sondern gleich mehreren. Dazu kommen Kanäle kleinerer Medien oder einzelner Personen, die kaum Quellenprüfung betreiben und meist viel drastischer formulieren als ihre vom Staat bezahlten und um einen seriösen Anschein bemühten Kollegen.

Vorgehen bekannt aus Funk und Fernsehen

Rund um Saporischschja fahren Russlands Medien also die Strategie, die jeder Zuschauer des Staatsfernsehens zur Genüge kennt: Quantität vor Qualität. Die ständige Wiederholung der Rollenverteilung zwischen der Ukraine als vom Westen gehätscheltem Aggressor und Russland, dem unermüdlichen Verteidiger der guten Sache, macht Rezipienten über kurz oder lang mürbe. Schleichend soll man empfänglich dafür werden, dem ständig angebotenen Narrativ erst nicht mehr zu widersprechen und es schließlich vielleicht sogar anzunehmen.

Was genau die IAEA-Mission ans Licht fördert, ist für Russlands Nachrichtenwelt ohnehin zweitranging. Sollte diese wider Erwarten zufrieden mit dem Zustand des AKW sein, kann sich die russische Armee zu Hause idealerweise als erfolgreiche Verteidigerin der Anlage inszenieren.

Auf alle Szenarien vorbereitet

Sollte die IAEA jedoch vermelden, dass Russland in dem AKW fahrlässig einen Zwischenfall riskiert, wird man das als von vornherein abgesprochene Diagnose abtun und die laufend vermeldeten Angriffsversuche als False-Flag-Aktionen zur Beschuldigung Russlands bewerten. So sieht das auch das Verteidigungsministerium (von Ria vermeldet am Donnerstag um 16:48 Uhr): "Das Schweigen der westlichen Sponsoren des Selenskyj-Regimes" sei eine Bestätigung für deren "Teilnahme an den heutigen Provokationen".

Seit Kriegsbeginn ist es das Ziel des Kreml, maximales Misstrauen gegenüber jeglicher Information westlicher Medien zu säen. Und das wird besonders wichtig, sobald es um einen Einsatz geht, dessen Ziel es ist, zum Kern der Wahrheit vorzudringen. Die Flut der Telegram-Nachrichten legt darüber einen nützlichen Schleier. (Thomas Fritz Maier, 2.9.2022)